37 Tage Wartezeit auf einen Rollstuhl: MS-Patientin (72) geht im Gerangel zwischen Sanitätshaus und Krankenkasse DAK unter
Eine 48-Stunden-Mobilitätsgarantie verspricht die DAK Gesundheitskasse Versicherten, die auf einen Rollstuhl angewiesen sind. Eine MS-Patientin musste nun am eigenen Leib erfahren, dass dieses Versprechen nichts wert ist. Kein Einzelfall.
Es ist eine Reihe von beruhigenden Versprechen, die die Ersatzkasse DAK Gesundheit auf ihrer Webseite all jenen Versicherten gibt, die auf einen Rollstuhl angewiesen sind. Von individueller und bedarfsabhängiger Beratung ist die Rede, von regelmäßiger Wartung und Instandsetzung durch geschultes Fachpersonal. Außerdem gebe es einen „technischen Notdienst mit unverzüglicher Reparatur oder Austausch gegen einen funktionsähnlichen und -fähigen Rollstuhl innerhalb von zwei Arbeitstagen“. Über diese 48-Stunden-Mobilitätsgarantie der DAK kann Ilona Kern (Name geändert) nicht einmal mehr lachen. Sie hat in den letzten Wochen stattdessen viel geweint.
Die 72-jährige MS-Patientin musste nach einem Defekt an ihrem Elektrorollstuhl insgesamt 37 Tage warten, bis es am heutigen Donnerstag funktionierenden Ersatz gab. So lange konnte sie ihre Wohnung nicht verlassen – mit dem Rollator kam sie gerade mal bis zum Gartentor. Sie konnte ihre Termine bei der Krankengymnastik nicht wahrnehmen und konnte in einer Zeit, in der das Thema Inklusion in aller Munde ist, nicht am gesellschaftlichen Leben teilnehmen (unser Bericht vom 8. November). Und auch wenn der Rollstuhl jetzt zu funktionieren scheint, sagt sie uns: „Das hat mich mehr mitgenommen, als ich gedacht habe. Ich fühle mich so gedemütigt.“
„Sonderbericht“ Soziale Teilhabe: Qualitätsdefizite, mangelnde Transparenz, rechtswidriges Verhalten
Für die Teilhabe von kranken oder behinderten Menschen am Leben in der Gesellschaft sind Hilfsmittel wie ein Rollstuhl „Grundvoraussetzung“, schreibt das Bundesamt für Soziale Sicherung in einem 2022 herausgegebenen Sonderbericht über die Qualität der Hilfsmittelversorgung in der gesetzlichen Krankenversicherung (hier als PDF). Eine qualitätsvolle Versorgung mit diesen Hilfsmitteln sei von „wesentlicher Bedeutung“.
Doch folgt man diesem 76 Seiten starken Bericht, dann hat die DAK in Zusammenarbeit mit ihrem Vertragspartner, dem Regensburger Sanitätshaus Reiss, das mit über 50 Jahren Erfahrung wirbt und mit „engagierter Unterstützung“ beim Wiedererlangen von Selbständigkeit trotz Krankheit, ein Musterbeispiel dessen abgeliefert, was beim Bundesamt vielfach bekannt ist und zunehmend Besorgnis auslöst.
Die Verfasser des Sonderberichts konstatieren „zahlreiche Beschwerden über Qualitätsdefizite in der Hilfsmittelversorgung“ und „bei der Beratung der Versicherten sowohl auf Seiten der Krankenkassen, als auch der Leistungserbringer (also zum Beispiel Sanitätshäuser, Anm. d.Red.)“. Geklagt wird auch über „rechtswidrige Verhaltensweisen von Krankenkassen im Vertragsverhandlungsgeschäft mit den Leistungserbringern“, über mangelnde Transparenz gegenüber den und fehlende Unterstützung der Versicherten.
Die Misere begann mit einem Gesetz zur „Wettbewerbsstärkung“
Bemerkenswert ist all dies, neben dem Umstand an sich, weil die Ausgaben der Krankenkassen für Hilfsmittel – über 28 Millionen Fälle, vom Hörgerät, über die Prothese bis hin zum Rollstuhl – mit 9,3 Milliarden Euro im Jahr 2020 nicht einmal vier Prozent der gesamten Leistungsausgaben von Krankenkassen, 249 Milliarden Euro, ausmachen.
Auslöser der Misere ist das 2007 unter CSU-Bundesgesundheitsminister Horst Seehofer verabschiedete Wettbewerbsstärkungsgesetz. Durch diese umfassende Neuregelung sollten, so die damalige politische Marschrichtung, die steigenden Kosten in der gesetzlichen Krankenversicherung zu gestoppt und die Beiträge stabil gehalten werden. „Erklärtes Ziel“ war es dabei insbesondere auch, „den Preiswettbewerb in der Hilfsmittelversorgung zu stärken“, schreibt das Bundesamt für Soziale Sicherung.
Unter anderem wurde dabei die Freiheit der Versicherten bei der Wahl ihres Sanitätshauses eingeschränkt. Nur wenn das betreffende Unternehmen einen Vertrag mit der jeweiligen Krankenkasse hat, darf man dessen Service in Anspruch nehmen.
Überraschung: Preiswettbewerb bei sinkender Qualität
17 Jahre und diverse Gesetzesanpassungen später kommt das Bundesamt nun zu dem vorläufigen und vielleicht gar nicht so überraschendem Schluss, dass dieses Vorgehen nicht zu dem „erhofften Qualitätswettbewerb“ geführt habe. Im Gegenteil. Es geht allein um den Preis. Im von den gesetzlichen Krankenkassen auch „mit rechtswidrigen Verhaltensweisen“ befeuerten Preiswettbewerb blieben die Qualität im Umgang mit Versicherten und deren flächendeckende Versorgung mit Hilfsmitteln auf der Strecke.
Zahlreiche Beschwerden, die ohnehin nur eine Spitze des Eisbergs darstellen dürften, erreichten das Bundesamt insbesondere über das Aktionsbündnis für bedarfsgerechte Heil- und Hilfsmittelversorgung für chronisch kranke und behinderte Kinder. Eine entsprechende Petition wurde 2021 mit über 55.000 Unterschriften unterstützt. Es ist nicht bekannt, wie viele ältere Menschen wie Ilona Kern, die sich eher selten zu Wort melden, von den Qualitätsmängeln bei der Hilfsmittelversorgung betroffen sind und im Spannungsfeld zwischen Krankenkassen und Leistungserbringern zerrieben werden.
Sanitätshäuser unter Druck
Dass Unternehmen wie das Sanitätshaus Reiss unter Druck stehen, mag man daran ablesen, dass dem Bundesamt für Soziale Sicherung diverse Beschwerden der Unternehmen über das Gebaren der gesetzlichen Krankenkassen vorliegen. „Zahlreiche Leistungserbringer“ würden sich demzufolge darüber beklagen, dass die Kassen keine Vertragsverhandlungen zuließen, sondern nach dem Motto „Friss oder stirb“ auf bestehende Verträge verwiesen, denen man „beitreten“ könne. Ein rechtswidriges Verhalten.
Ebenso rechtswidrig ist die von Bundesamt monierte Praxis, derzufolge Krankenkassen Verträge so ausgestalten, dass sie auf bestimmte Unternehmen zugeschnitten sind und andere von vorneherein ausschließen. Eine Möglichkeit, die Preisgestaltung bei diesen Verträgen zu kontrollieren, hat das Bundesamt laut eigener Aussage nicht.
Immer mehr Unternehmen wie das Sanitätshaus Reiss, jährliche Bilanzsumme immerhin rund zwei Millionen Euro, schließen sich zusammen, um einerseits ihre Interessen gegenüber Politik und Öffentlichkeit zu vertreten, andererseits, um gemeinsam gegenüber den Krankenkassen auftreten zu können. Reiss hält beispielsweise Gesellschaftsanteile an der Hamburger rehaVital Gesundheitsservice GmbH, unter deren Dach sich über 70 Unternehmen versammelt haben, insbesondere um durch gemeinsame Produktbeschaffung günstigere Konditionen zu erhalten.
Konsequenz: Menschenunwürdige Behandlung von Betroffenen
Ilona Kern ging 37 Tage lang unter in diesem Preiskampf, dem Abwiegeln von Zuständigkeiten und der vom Bundesamt monierten fehlenden Transparenz, wer nun eigentlich verantwortlich ist für die menschenunwürdige Behandlung, die ihr zuteil wurde.
Frau Kerns Rollstuhl wurde in den vier Jahren, in denen sie ihn besitzt, bislang ein einziges Mal gewartet. Auf ihre Initiative hin, weil eine Polizeibeamtin sie auf die maroden Reifen hingewiesen hatte. Nach dem Defekt am 9. Oktober und in den Wochen danach wurde sie in telefonischen Warteschleifen von der DAK, aber auch dem Sanitätshaus vertröstet, mit falschen Versprechungen abgespeist und gelegentlich wurde ihr einfach aufgelegt.
Kein Platz für menschliche Entscheidungen?
In einer Stellungnahme gegenüber unserer Redaktion deutet die DAK dann auch noch an, dass laut Aussage des Sanitätshauses Reiss „wohl ein nicht pfleglicher Umgang mit dem Rollstuhl ursächlich für den Defekt“ gewesen sei. Ein Muster, das es, wie Zuschriften an unsere Redaktion nach Veröffentlichung des Artikels nahelegen, häufiger zu geben scheint, um sich der Verantwortung zu entledigen. Man wälzt sie auf die Versicherte ab, ohne das eigentliche Problem zu lösen. Im Sonderbericht des Bundesamts wird dieses Verhalten recht deutlich beschrieben: „Es bleibt festzustellen, dass die Mehrzahl der Krankenkassen ihrer gesetzlichen Pflicht zur Prüfung der Qualität der Versorgung nicht in ausreichendem Maß nachkommen.“
Für eine menschliche Entscheidung, nämlich einer 72-jährigen MS-Patientin binnen der versprochenen 48 Stunden einen funktionierenden Rollstuhl vor die Tür zu stellen, damit sie die begrenzte Zeit, in der sie noch halbwegs etwas unternehmen kann, so gut wie möglich nutzen kann, war bei diesem Gerangel um Geld, Zuständigkeiten und Verantwortung 37 Tage lang kein Platz – weder bei der DAK noch beim Sanitätshaus Reiss. Es geht eben – auch dank der 2007 ins Werk gesetzten Wettbewerbsstärkung – vor allem um den Preis.
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