Entdecke Veranstaltungen in Regensburg Alle Kultur Oekologie Soziales Kino

Unterstützen Sie unabhängigen Journalismus für Regensburg!

Hallo. Schön, dass Sie hier lesen oder kommentieren. Fast noch mehr freuen würden wir uns, wenn Sie die Arbeit von regensburg-digital mit einem kleinen (gern auch größerem) Beitrag unterstützen. Wir finanzieren uns nämlich nur zu etwa einem Drittel über Werbeanzeigen. Und für die gibt es bei uns auch ausdrücklich keine zusätzliche Gegenleistung, etwa in Form von PR-Artikeln oder Native Advertising.

Mehr als zwei Drittel unseres Budgets stammt aus Spenden – regelmäßige Beiträge von etwa 300 Mitgliedern im Verein zur Förderung der Meinungs- und Informationsvielfalt e.V.

Anders ausgedrückt: Wir bauen auf Sie – mündige Leserinnen und Leser, die uns freiwillig unterstützen. Seien Sie dabei – mit einem einmaligen oder regelmäßigen Beitrag. Herzlichen Dank.

Spenden Sie mit
Seit 9. Oktober

31 Tage „Hausarrest“: Schwerstkranke Regensburgerin bekommt seit Wochen keinen neuen Rollstuhl

22 Jahre lang war Isolde Kern Krankenschwester und hat sich um kranke Menschen gekümmert. Nun ist die 72-Jährige selbst auf Hilfe angewiesen, doch scheinen sowohl ihre Krankenkasse wie auch ein Sanitätshaus eher gemächlich mit alledem umzugehen. Seit dem 9. Oktober wartet die MS-Patientin auf eine Reparatur oder Ersatz für ihren defekten Rollstuhl.

Vor der Wohnungstür von Frau Kern steht seit Wochen nur ein defekter Rollstuhl. Foto: as

In den über fünf Wochen, die sich Isolde Kern in ihrer kleinen Wohnung im „Hausarrest“ befindet, geht es der 72-Jährigen jeden Tag ein kleines bisschen schlechter. Zwar lacht sie auch mal, als wir uns miteinander unterhalten, aber wenn sie allein ist und ihre vier Wände nicht verlassen kann, dann weint sie auch oft und die Schmerzen und Versteifungen in ihrem Körper nehmen, weil sie auch nicht zur Krankengymnastik kann, langsam, aber sicher immer mehr zu.

WERBUNG

Vor 13 Jahren erkrankte die Frau, die früher Halbmarathons lief und sich, wenn sie mal Ärger hatte, ihren Frust von der Seele lief und radelte, an Multipler Sklerose. Seit 2017 ist sie auf einen elektrischen Rollstuhl angewiesen. Ohne den kommt sie mit ihrem Rollator gerade mal bis zur Gartentür. Doch dieser Rollstuhl, der schon seit Februar im wieder Zicken machte, gab am 9. Oktober endgültig den Geist auf. Seitdem wartet Isolde Kern vergeblich darauf, dass ihre Krankenkasse, die DAK, und das von dieser damit beauftragte Sanitätshaus Reiss für Ersatz sorgen und damit ihren „Hausarrest“, so bezeichnet sie ihre Situation, beenden.

„Ich habe mich in meinem Leben noch nie so hilflos und gedemütigt gefühlt.“

In einer Nachricht an eine Freundin schreibt die Frau, die 40 Jahre lang gearbeitet hat, 22 davon als Krankenschwester: „Die Einschränkungen während Corona waren im Vergleich dazu gar nichts. Ich habe mich in meinem Leben noch nie so hilflos und gedemütigt gefühlt.“

In einem stichpunktartigen Tagebuch, auf das wir uns im Folgenden beziehen, hat Isolde Kern, deren Namen wir geändert haben, die vielen Telefonate und Schriftwechsel per WhatsApp festgehalten, die sie seitdem und auch schon zuvor mit Krankenkasse und Sanitätshaus geführt hat. Es ist gespickt mit Ausflüchten, halbherzigen Entschuldigungen und falschen Versprechungen. Manchmal, so steht es in Frau Kerns Aufzeichnungen, legt man ihr in der Reiss-Hotline einfach auf.

Ohne Rollstuhl kann sie die Wohnung nicht verlassen.

Sie sei halt „auch nicht einfach“ habe ihr jemand in einer Selbsthilfegruppe mal gesagt, wo man solche Situationen anscheinend kennt. „Aber wie soll ich denn reagieren, wenn es den Verantwortlichen ziemlich egal zu sein scheint, dass ich mir nicht einmal selbst etwas zum Essen kaufen kann?“, sagt Frau Kern. Einmal sei ihr am Telefon gesagt wordern, sie solle sich doch an eine kirchliche Einrichtung wenden. Die würden so etwas machen.

Sie solle Schmutz aus dem Akkuaufnahmegerät des Rollstuhls „mit einem Pinsel oder Tuch“ entfernen, heißt es anfänglich. Das bringt keinen Erfolg. Dann meldet sich mehrere Tage erst einmal niemand. Das erste Wochenende Arrest. Dann wird sie angerufen. Der Werkstattleiter beim Sanitätshaus sei gerade in Urlaub, heißt es. Er werde sich Anfang nächster Woche melden. Als Frau Kern um einen Leihrollstuhl bittet, sagt man ihr in der Hotline zu, das „weiterzuleiten“. Doch ein solcher Leihrollstuhl kommt nicht. Der Arrest dauert mittlerweile acht Tage.

Ein Ersatzrollstuhl geht bereits an der Gartentür kaputt.

Isolde Kern ruft bei der DAK an, landet auch dort in der Hotline. Als sie endlich jemanden an der Strippe hat, wird ihr mitgeteilt, dass sich in ihrer Akte keinerlei Notiz zu dem Sachverhalt befinde. Jedenfalls habe er darauf keinen Zugriff, sagt ihr Gesprächspartner. Man werde sich aber mit einem anderen Unternehmen in Verbindung setzen, um einen Kostenvoranschlag für einen neuen Rollstuhl einzuholen, wird versprochen.

Am 18. Oktober, Freitag, dann ein Anruf vom Sanitätshaus Reiss. Der Werkstattleiter sei kommenden Montag wieder da. Er werde vorbeikommen, den defekten Rolli abholen und Ersatz mitbringen. Die DAK meldet sich in dieser Woche nicht mehr. Frau Kern muss die mittlerweile sechste Einheit ihrer Krankengymnastik absagen.

Montag, zwölf Tage nach dem Defekt, kommt ein Ersatzrollstuhl. Endlich. Mit dem kommt Isolde Kern dann gerade mal bis zur Gartentür, ehe auf dem Display ein Fehlercode rot aufleuchtet. Wieder zurück in die Wohnung. Die Firma Reiss bekommt per WhatsApp Fotos von dem Fehlercode. Frau Kern muss weiter daheim bleiben.

Vergebliche Anrufe in der Reiss-Hotline

Zwischendrin eine WhatsApp-Nachricht von der Reiss-Hotline: „Freut mich, dass das mit dem Rollstuhl geklappt hat!“ Es scheint so, als wisse eine Hand nicht, was die andere tut. „Ich wusste nicht, ob ich lachen oder weinen soll“, sagt Frau Kern. „Ich hab mich regelrecht verarscht gefühlt.“ Am 14. Tag in Arrest muss die 72-Jährige den Termin für die Krankengymnastikeinheiten sieben und acht absagen. „Ich bin maßlos enttäuscht und fühle mich hilflos, gedemütigt, verletzt und gekränkt“, schreibt sie in ihr Tagebuch. „Dieses Verhalten – vom Sanitätshaus wie auch von der DAK – ist erniedrigend und menschenunwürdig.“

Sie ruft gleich am frühen Morgen wieder einmal beim Sanitätshaus Reiss an, fragt, wann der reparierte Rolli endlich kommt und versucht, ihre Situation klar zu machen. Dort teilt ihr die Dame am Telefon mit, dass sie das an die zuständige Fachabteilung weiterleiten werde. Eine weitere Rückmeldung bekommt Frau Kern an diesem Tag nicht mehr.

Bei einem weiteren Anruf am Morgen des nächsten Tages wird Isolde Kern mitgeteilt, dass sich der Werkstattleiter im Außendienst befinde und die Fachabteilung nicht zu erreichen sei. Die Dame am Telefon wünscht der Betroffenen, die nun den 15. Tag in Folge ihre Wohnung nicht verlassen kann, „einen schönen Tag“.

Beim defekten Rollstuhl: Alle Daten einer anderen Betroffenen

Vor der Wohnungstür steht derweil der defekte Rollstuhl. In einer Plastiktüte mit Reiss-Aufdruck, wo Kabel und Zubehör verstaut sind, findet Frau Kern ein Blatt mit sämtlichen Daten einer anderen Betroffenen, das man anscheinend dort vergessen hat.

Dann am 25. Oktober, wieder Freitag, ein Hoffnungsschimmer. Die DAK Münster ruft an. Ob sich der andere Anbieter schon gemeldet habe? Der sollte sie schon vor einer Woche mit einem neuen Faltrollstuhl versorgen. Hat er aber nicht – und sich bislang auch nicht gemeldet.

In der Tüte am Rollstuhl wurde das Datenblatt einer anderen Nutzerin vergessen. Foto: as

Frau Kern telefoniert in iher Verzweiflung mit verschiedenen anderen Sanitätshäusern. Das eine hat keinen Vertrag mit der DAK, kann und darf also nicht tätig werde. Das andere verspricht, am Montag einen Leihrollstuhl gegen 500 Euro Kaution zu liefern. Das Wochenende verbringt Frau Kern erneut im Arrest. Am Montag muss sie wieder ihre Krankengymnastik absagen.

Ein Rollstuhl würde 5.000 Euro kosten.

Sie ruft bei Reiss an. „Ich verzichte auf ihren Service“, sagt sie nach 19 Tagen des Wartens auf einen funktionierenden Rollstuhl. Dann ein Gespräch mit der Hotline der DAK und der Bitte, das andere Sanitätshaus zu beauftragen. Doch von diesem Unternehmen heißt es nun, dass das so wie am Freitag besprochen doch nicht funktioniere. Der Leihrollstuhl sei nun doch nicht verfügbar. Außerdem müsse erst der andere, defekte Rollstuhl von Reiss gecheckt werden, sagt das andere Sanitätshaus.

Der Auftrag geht also in Abstimmung mit der DAK wieder zurück Reiss, ein Unternehmen, das auf seiner Homepage damit wirbt, „seit über 50 Jahren (…) ein Inbegriff für fachkundige Betreuung“ zu sein. Während ihrer weiteren Tage im Arrest recherchiert Isolde Kern, was so ein Rollstuhl kosten würde. Monatliche Leihgebühr knapp 450 Euro pro Monat, Kaufpreise ab knapp 5.000. Doch für beides fehlt der schwerstkranken Rentnerin das Geld.

Versprochener Rollstuhl kommt wieder einmal nicht.

„Groß in Urlaub fahren kann ich nicht“, erzählt sie, als wir sie besuchen. Aber sie sei zum Beispiel immer gern mit dem Zug nach München gefahren. Dort könne man sich einiges anschauen und sie habe das, so oft es ging, versucht. „Ich weiß ja nicht, wie lange das noch geht.“ Schließlich gehe es bei ihr mit MS stetig bergab. Dass sie nun über Wochen nicht zur Krankengymnastik gekommen sei, mache all das nicht besser.

Eigentlich sollte heute, es ist der 7. November, nach 29 Tagen ein funktionsfähiger Rollstuhl kommen. Wir warten gemeinsam. Irgendwann ruft Frau Kern bei Reiss an – mal wieder. Dort erreicht die Dame am Telefon niemanden vom Außendienst. Sie wisse auch nicht, ob heute jemand komme. Spoiler: Es kommt auch niemand.

Bei Reiss will am erst „eingehend prüfen“

Noch am selben Tag schickt der Autor dieser Zeilen eine Anfrage an das Sanitätshaus Reiss und die DAK mit der Bitte um rasche Stellungnahme bis Freitagnachmittag – knapp 27 Stunden Zeit. Die Betroffene hat lange genug gewartet. Flankierend zu den Fragen und einer Schweigepflichtentbindung von Frau Kern steht in der Mail an Reiss der Satz:

„Ich will, um keine Missverständnisse entstehen zu lassen, und auch aus Gründen der Transparenz nicht verhehlen, dass ich Ihren Umgang mit einer Schwerstkranken nach den mir aktuell vorliegenden Informationen für skandalös halte.“

Dass die Mail angekommen ist, lassen wir uns bei Reiss telefonisch bestätigen, von der DAK erhalten wir eine förmliche Eingangsbestätigung. Tags darauf erhalten wir eine Mail von der Assistentin der Reiss-Geschäftsführung, die wir hier vollständig, mit anonymisierten Namen, wiedergeben:

„Sehr geehrter Herr Aigner,

man sollte mit einem Urteil zu einem Sachverhalt immer warten, bis man beide bzw. alle beteiligten Seiten gehört hat.
Diese Objektivität höre ich aus Ihrer E-Mail leider nicht heraus.
Eine Anfrage mit Fristsetzung einer Antwort binnen 24h ist zudem – nennen wir es mal – sportlich.

Die zuständige Bereichsleitung Frau XXX, die den benannten Fall kennt, befindet sich diese Woche im Urlaub.
Ich werde Ihre E-Mail an Frau XXX weiterleiten.
Nach eingehender Prüfung des gesamten Sachverhalts werden wir Frau Kern eine Rückmeldung zu kommen lassen.“

DAK erfuhr erstmals am 14. Oktober von der Sache

Die DAK antwortet hingegen inhaltlich. Auch diese Antwort geben wir vollständig wieder:

„Wir haben am 14.10.24 erstmalig durch unsere Versicherte Frau Isolde Kern die Information ihres defekten Rollstuhles bekommen und uns umgehend darum gekümmert.

Im Austausch mit dem Leistungspartner soll wohl ein nicht pfleglicher Umgang mit dem Rollstuhl ursächlich für den Defekt sein. In den darauffolgenden regelmäßigen Gesprächen mit der Kundin sind wir ihren wechselnden Wünschen im Bezug der Leistungspartnerwahl nachgekommen.

Am 28.10.24 teilte uns Frau Kern mit, dass sie nun doch beim Leistungspartner Reiss schlussendlich bleiben möchte. Den darauffolgenden Kostenvoranschlag haben wir am 31.10.24 bewilligt. Aufgrund fehlender Ersatzteile, die erst bestellt werden mussten, laut Firma Reiss, kann erst heute mit der Reparatur begonnen werden. Wir sind in ständigem Austausch mit der Kundin und versuchen ihr bestmöglich zu helfen, damit sie schnell wieder mobil wird.

Von Ihrem Hinweis bezüglich dem Datenblatt des Ersatzrollstuhls hören wir zum ersten Mal. Sie haben recht, es ist datenschutzrechtlich bedenklich. Das darf nicht passieren. Wir danken Ihnen für diesen Hinweis und gehen diesem sofort nach. Da es sich bei diesem Hilfsmittel nicht um ein Eigentum der DAK-Gesundheit handelt, nehmen wir diesbezüglich umgehend wieder Kontakt mit dem entsprechenden Leistungserbringer auf.“

Frau Kern erhält am Freitag zwei Anrufe. Die DAK habe ihr mitgeteilt, dass nun die Ersatzteile für den defekten Rollstuhl da seien, erzählt sie. Ein Außendienstmitarbeiter von Reiss meldet sich. Das mit dem neuen Rollstuhl klappe heute auf keinen Fall mehr, schildert Frau Kern. Es sei ja bald Wochenende. Aber am Montag. Da komme er bestimmt. Wieder einmal.

Trackback von deiner Website.

SUPPORT

Ist dir unabhängiger Journalismus etwas wert?

Dann unterstütze unsere Arbeit!
Einmalig oder mit einer regelmäßigen Spende!

Per PayPal:
Per Überweisung oder Dauerauftrag:

 

Verein zur Förderung der Meinungs- und Informationsvielfalt e.V.
IBAN: DE14 7509 0000 0000 0633 63
BIC: GENODEF1R01

Kommentare (1)

  • El

    |

    Ist das nicht unterlassene Hilfeleistung?

    Nicht genug, dass die Frau ihre Wohnung nicht verlassen kann; dass sie die notwendige Krankengymnastik nicht wahrnehmen kann, ist übel.

    Die Frau hat jahrzehntelang Krankenkassenbeiträge gezahlt und hat ein Anrecht auf ordnungsgemäße Versorgung mit Hilfsmitteln; stattdessen wird sie wie eine Bittstellerin abgewiesen und gedemütigt.

    Das Sanitätshaus scheint zu florieren; unter “Join our Team” werden etliche neue Angestellte & Azubis gesucht…….. https://www.reiss.info/stellenanzeigen

    Vielleicht ist bei der Umstellung vom alteingeführten Familienunternehmen zur Neuzeit einfach irgendwas auf der Strecke geblieben ….

Kommentieren

Ich bestätige, dass die hier von mir eingegebenen persönlichen Daten auf regensburg-digital.de bis auf Widerruf gespeichert werden dürfen.
drin