Woyzeck oder: Was ist eigentlich Wahnsinn?
Am Regensburger Stadttheater ist Woyzeck der einzig „Normale“ in einer Welt voller Irrer.
Wer in der Schule Woyzeck lesen musste, erinnert sich an Büchners unvollendetes Stückwerk: Woyzeck als armer Irrer in einer ihn unbarmherzig ausbeutenden Welt, in der er sich immer mehr verliert und in der er am Ende zum Mörder seines Mädchens wird. Katrin Plötner dreht in ihrer Sicht auf Woyzeck noch ein bisschen mehr an der Irrsinns-Schraube. Bei ihr ist Woyzeck, die arme Sau, der letzte Normale in einer Welt, die schon längst mehr als irre ist. Der Arzt? Besessen von der Idee der Unsterblichkeit und seiner eigenen Grandezza. Der Hauptmann? Besessen von Tugend und Moral und seiner eigenen Unzulänglichkeit. Marie? Besessen vom Gefühl, geliebt zu werden. Selbst Andres, der Freund, hat gepflegt einen an der Klatsche, vom testosteronstrotzenden Tambourmajor gar nicht zu sprechen.
Woyzeck zieht die einzig ehrbare Konsequenz
Egal wie schnell Plötners Woyzeck auch rennt – zum Wahnsinn der anderen kann er nicht aufschließen. Dass er nicht aufgibt und es am Ende doch noch in die Liga der Irren schafft, ist die eigentliche Tragik dieses Regensburger Woyzecks. Wo er doch immerhin als Einziger den gesellschaftlichen Irrsinn als solchen erkennt und schlußendlich die einzige ehrbare Konsequenz daraus zieht, und sich in den nächsten Wassereimer stürzt.
Dabei bleibt die Inszenierung so fragmentarisch wie Büchners Text. Oft auf starke Bilder hin gebaut, folgt der Abend keiner stringenten inneren Dramaturgie, sondern darf als Spiegelbild des Stücks stocken, stehenbleiben, woanders wieder einsetzen. Dabei wird Katrin Plötner auch nicht müde, dem gediegenen Regensburger Theaterpublikum die Einzelheiten der menschlichen Anatomie nahezubringen, denn nackte Haut und primäre Geschlechtsteile rufen immer noch – auch im 21. Jahrhundert – in bayerischen Theatersälen ein erschrecktes Raunen hervor. Leute, in der Inszenierung ist ein Penis zu sehen. Ihr seid alle erwachsen, guckt ihr nie in den Spiegel? Kommt klar.
Kein Lösungsweg und keine Versöhnung
Ein paar der viel radikaleren Bilder in Plötners Inszenierung, zum Beispiel das Herrmann-Nitsch-Zitat gegen Ende des Stückes mit Woyzeck als büßender Jesusfigur mit den Füßen gen Himmel zeigend riefen wiederum beim Publikum nicht mal ein entrüstetes Räuspern hervor. Dabei ist die diesen Bildern innewohnende Blasphemie eine sehr augenöffnende: in einer Welt, in der man Amtsinhabern, Würdenträgern und anderen personifizierten Institutionen nicht mehr vertrauen kann, in der man sich nicht mal mehr auf das private Glück der Kleinfamilie und der Häuslichkeit zurückziehen kann, ist auch die Religion kein Trost mehr. Und wenn nicht mal mehr Beten hilft, ist die nackte Verzweiflung alles, was bleibt. Hier eröffnet sich kein Lösungsweg, kein Rückzug aus der Welt, keine Versöhnung, keine Handlungsanweisung für ein besseres, ein anderes Leben.
Dass in Regensburg der Woyzeck auf der wenig versöhnlichen Note der Geschichte des verlassenen Kindes endet, ist brutal, aber konsequent. Hoffnung und Heilung von dem Irrsinn in dieser Welt, der schon Mutter- und Vatergeneration verdorben hat, ist auch von der kommenden Generation nicht zu erwarten. Der Wahnsinn ist salonfähig geworden. Resignation, Isolation und schlußendlich Zerstörung sind die einzigen Auswege.
Woyzeck, Schauspiel von Georg Büchner
Inszenierung: Katrin Plötner, Bühne: Anneliese Neudecker, Kostüme: Henriette Müller, Musik: Markus Steinkellner. Bestzung: Woyzeck: Gunnar Blume, Marie: Pina Kühr, Hauptmann: Gerhardt Hermann, Doktor: Michael Haake, Tambourmajor: Robert Herrmanns, Andres: Sebastian Ganzert, Käthe: Franziska Sörensen, Narr: Jacob Keller