Vom Normalzustand Vergewaltigung
Vergewaltigung ist Alltag, auch dann, wenn gerade nicht die Objektive der gesamten Republik auf sie gerichtet sind. Aus aktuellem Anlass: Einige Anmerkungen zum öffentlichen Umgang mit Fällen von sexualisierter Gewalt. Ein Essay von Martin Oswald.
Es ist das beherrschende Thema dieser Tage in Regensburg: Eine junge Frau wird in der Nacht vom 26. auf 27. Juli im Regensburger Stadtnorden von drei Tätern in ein Auto gezerrt, vergewaltigt und später nackt ausgesetzt. Zahlreiche (auch überregionale) Medien berichten ausführlich über den Fall, die Polizei hat umfangreiche Fahndungsmaßnahmen eingeleitet, in den Kommentarspalten wetzen Hobbykriminologen die Mistgabeln. So weit, so normal.
Doch vielleicht lohnt gerade zum Zeitpunkt großer öffentlicher Aufmerksamkeit ein genauerer Blick hinter die Fassade der vermeintlichen Provinzstadtidylle, die sonst ein alltägliches und virulentes Gesellschaftsproblem in einen Mantel des Schweigens hüllt: sexualisierte Gewalt gegen Frauen.
Einige grundsätzliche Anmerkungen, die über die aktuelle Gewalttat hinausgehen, sich aber beispielhaft auf sie beziehen, sind dabei nötig. Das zeigen gerade die Reaktionen, die von xenophoben Verbalexzessen (es waren Slawen!) über die ständigen Justizmärchen (Steuersünder werden härter bestraft als Vergewaltiger!) bis hin zu Geschlechtsamputations-, und anderen detailreichen Gewaltphantasien (Schwanz ab! Und dem Volk ausliefern!) reichen.
Ausführliche Berichterstattung, zumal die Täter derzeit noch flüchtig sind, aber auch Empörung über die Vergewaltigung in der Isarstraße, sind angebracht. Unangebracht sind allerdings alle Versuche die Täter zu entmenschlichen (Bestien etc.), die Tat als „unfassbaren“ Einzelfall zu stilisieren und den Tatort eigentlich für schlimmer zu halten als die Tat selbst. Doch der Reihe nach:
1. Die entmenschlichten Täter
„Brutale Bestien!“ und „Fasst diese Bestien!“, schallt es durch das Wochenblatt Regensburg vom 30. Juli. Die Aussagekraft dieser Titulierungen reicht dabei bewusst nicht bloß ans Ende des Ausrufezeichens. Sie reicht viel weiter und dockt genau dort an, wo der gemeine Volksmob in Gedanken die Saw-Filmreihe durchspielt, um sich vorzustellen, was man mit den Vergewaltigern alles anstellen könnte und am liebsten auch sollte. Die Rede von „Bestien“ bedient schamlos und ohne jegliche und gerade in solch sensiblen Angelegenheiten angebrachte, journalistische Distanz, die Phantasien der Meute.
Es ist müßig und in der Tat auch einigermaßen befremdlich darauf hinzuweisen, ja explizit betonen zu müssen, dass die Täter Menschen sind. Im Angesicht eines schlimmen Verbrechens nimmt man damit gewissermaßen die Perspektive des Verbrechers ein. Das ist nicht schön und bringt postwendend den Vorwurf der Verharmlosung der Tat mit sich, notwendig ist es dennoch. Und zwar deshalb, weil solche Debatten der Sachstand regelmäßig in wildeste Rachegelüste und Spekulationen abgleiten.
Die Erinnerung daran, dass selbst die grausamsten Gewalttäter und Vergewaltiger Menschen sind, dient aber nicht nur ihrem – provokant formuliert – Schutz. Verbrechen aller möglichen Ausprägungen sind menschlich, allzumenschlich. Ihre Verbannung ins Animalische und Bestialische und die Verortung „des Bösen“ im Unmenschlichen, verstellen einen aufgeklärten Blick auf Tat und Täter. Hannah Arendt hat, nicht ohne dafür viel Kritik einstecken zu müssen, von der „Banalität des Bösen“ gesprochen, davon, dass hinter den größten Gewalttaten „normale Menschen“ stecken.
Diese Erkenntnis ist für den Umgang mit Straftätern, den Diskurs über Verbrechen und Grausamkeiten und nicht zuletzt auch zur Prävention und dem Schutz von (potentiellen) Opfern entscheidend. Nur von denjenigen, die wir als gleichwertige Menschen betrachten, können wir uneingeschränkt Verantwortlichkeit für ihr Handeln einfordern, Strukturen erkennen und analysieren, die Gewalthandlungen begünstigen und verantwortlichen Tätern als solchen begegnen. Das Recht erkennt (zumindest theoretisch) diese Zusammenhänge, manche Journalist_innen und Kommentator_innen leider nicht.
Im Übrigen ist es auch die Entmenschlichung, in Form und Tonlage freilich verschieden, die in anderen Kontexten zur Umkehrung der Schuldfrage führt. Das ist meist in vermeintlich harmloseren Fällen sexualisierter Gewalt der Fall, wenn Alkohol, kurze Röcke und/oder Sätze wie „Sie hat sich ja nicht gewehrt“ im Spiel sind. Dann nämlich ist der Täter das arme Opfer seiner animalischen Testosteronschübe und angeboren-männlichen Triebhaftigkeit und das Gewaltopfer „ja irgendwie selber schuld“. Hier wirkt die Entmenschlichung verharmlosend und entschuldigend, dort wirkt sie dämonisierend und entwürdigend. Falsch ist sie immer.
2. Kein Einzelfall, sondern eine Tat unter vielen
„Schnappt diese Bestien, damit Regensburg wieder ruhig schlafen kann!“ So beendet die Wochenblatt-Autorin ihren Kommentar, der geradewegs zur zweiten Anmerkung führt. Die Vergewaltigung vom besagten Wochenende zum unfassbaren Einzelfall zu erklären und naiv zu unterstellen, dass bei der Ergreifung der drei Täter alles wieder gut würde, bewegt sich fernab der Realität.
Die bittere Realität lautet vielmehr: Diese Tat ist kein Einzelfall, sie ist eine Einzeltat. Eine Tat sexualisierter Gewalt unter vielen. Vergewaltigung ist Alltag, auch dann, wenn gerade nicht die Objektive der gesamten Republik auf sie gerichtet sind. Bei aller individuellen Tragik der „Regensburger Vergewaltigung“ kann diese keine Singularität für sich beanspruchen. Leider.
Abermals im Wochenblatt (30.07.14) heißt es:
„[…] Doch solch eine Geschichte ist mir in den elf Jahren meiner journalistischen Tätigkeit noch nicht begegnet.“ Ein anderer Autor meint: „Sollte all dies, was die Frau schildert, so geschehen sein […], dann handelt es sich um eines der abscheulichsten Verbrechen der letzten Jahre in Regensburg.“
Empörung über die Einzeltat schlägt bei einigen Kommentator_innen um in sensationslüsterne Stilisierung des Vorfalls zur Einzigartigkeit. Nochmals: umfassende Berichterstattung ist im Sinne eines Fahndungserfolgs der Ermittlungsbehörden wichtig und richtig. Der mediale Sturzflug in den vergangenen Tagen auf dieses Thema ist jedoch unangemessen und fahrlässig. Immer neue Berichte mit kaum nennenswertem (neuen) Nachrichtenwert verdrehen journalistische Verantwortung in voyeuristischen Betroffenheitssensationalismus. Dieses Vorgehen wird weder der Einzeltat noch anderen vergleichbaren Taten und schon gar nicht Opfern sexualisierter Gewalt gerecht.
Das mediale Ausschlachten mag nicht so bewusst ablaufen wie die Entmenschlichung der Täter, führt aber implizit zur Verschleierung einer weit verbreiteten Vergewaltigungskultur. „Rape culture“ ist der Begriff für einen gesellschaftlichen Zustand, der sich scheut Missbrauch, Demütigung, Erniedrigung und Benutzung von und Gewalt und Grausamkeiten an (überwiegend) Frauen als weit verbreitet anzuerkennen, zu thematisieren und zu bekämpfen.
Laut einer repräsentativen Untersuchung des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend wurden 13 Prozent der Frauen seit ihrem 16. Lebensjahr Opfer sexueller Gewalt. Fast jede 7. Frau! Sexuelle und/ oder körperliche Gewalt erlebten 40 Prozent, sexuelle Belästigung sogar 58 Prozent. Die Einzelfälle, die sich in Berichterstattung niederschlagen, sind keine. Eine Vergewaltigung ist niemals ein isoliert zu betrachtender Einzelfall. Die einzelne Tat wird dadurch nicht relativiert, sondern in den richtigen Kontext gestellt: als gesamtgesellschaftliches Problem.
Der analysierende Blick sollte sich deshalb stets auch weg von der Einzeltat hin zu gesamtgesellschaftlichen Zusammenhängen richten. Welche Bedingungen begünstigen die männliche Betrachtungsweise von Frauen als sexuelle Verfügungsmasse? Wieso ist sexualisierte Gewalt gegenüber Frauen derart ausgeprägt und scheinbar normal? Was hat vielleicht der schulbübische, aber belästigende Spruch in der Disko mit einer Vergewaltigung zu tun? Welche Verbindungslinien gibt es in unterschiedlichen Ausprägungen von Grausamkeiten gegenüber Frauen? Diese und viele andere Fragen nach gesellschaftlichen Zusammenhängen könnte der Journalismus fernab abermaliger Rezitationen von Polizeimeldungen und Einzelfallstilisierungen stellen. Das wäre eine dringliche Aufgabe und zwar nicht nur in Phasen allgemeiner Empörung.
3. Die trügerische Idylle
Eine eigenartige und im höchsten Maße problematische Sichtweise kommt bei der Beschäftigung mit dem Tatort oder genauer, dem Verschleppungsort, zum Tragen. Hier zeigt sich am deutlichsten, dass die Fassade der idyllischen Provinzstadt eigentlich eine Sichtschutzmauer ist. So manche Empfindsamkeit scheint mehr durch den Ort des Geschehens gestört als durch die Tat selbst. Laut ihren Schilderungen wurde die junge Frau in der Isarstraße verschleppt, am Vorplatz der katholischen Pfarrkirche Hl. Geist im Regensburger Stadtteil Reinhausen.
„In der Kirche […] hatte ich Kommunion und Firmung. Meine Großeltern wohnen im Haus nebenan und ich kann einfach nicht fassen, dass so etwas in einer ruhigen Wohngegend wie dieser geschieht“, heißt es im bereits vielzitierten Wochenblatt.
Dort wo Mütter ihre Kinder vom nahegelegenen Kindergarten abholen, sei es nämlich passiert. „Keinen Respekt mehr vor der Kirche!“, geht es einer Mutter durch den Kopf, wenn sie an die Vergewaltigung denkt. Bevor sie in der Berichterstattung den Ort des Geschehens realisiert habe, sei sie erst einmal froh gewesen, „dass es so was bei uns nicht gibt…“.
Der Diskurs läuft hier völlig aus dem Ruder. Die Logik dieser Reaktionen lässt sich polemisierend in etwa so zusammenfassen:
Ja mei, wäre das auf St. Pauli, in Neukölln oder bei den Wilden da in Mumbai passiert, niemand würde sich wundern. Aber hier bei uns? In Regensburg? Im friedlichen Reinhausen vor einer katholischen Kirche?
Diese perfide Verklärung der Idylle ist trügerisch und Ausdruck einer (auch schon verklärenden) Sehnsucht nach einer Zeit, in der sich niemand an Frauen verging. Schon gar nicht bei uns. Diese Verklärung ist falsch, realitätsfern und gefährlich. Die meisten (sexualisierten) Gewaltverbrechen finden nämlich inmitten dieser Idylle statt.
Die Prototypen des Tatorts sind kreuzbehangene Fliesentisch-Wohnzimmer, das frisch aufgeschüttelte Ehebett, das Hello-Kitty-bemalte Kinderzimmer. 85,5 Prozent der Opfer sexueller Gewalt sind ihre Täter (zumindest flüchtig) bekannt. Die meisten Täter stammen aus dem unmittelbaren Umfeld (Beziehung, Familie, Nachbarschaft). Die wenigsten dieser Fälle finden ihren Weg durch die Sichtschutzmauern. Die Fassade der heilen Welt will aufrechterhalten werden und allzu oft werden Opfer von Angehörigen, Medien und Behörden nicht wahr- und ernstgenommen. Sie sind zum Schweigen verdammt.
Fazit
Was sich im Gesamten als „Rape culture“ definieren lässt, spiegelt sich in der Brutalität der Einzeltat wider. Für den Grad der Grausamkeit ist dabei unerheblich wo sich eine Tat ereignet, ob auf dem Kiez oder dem Kirchvorplatz in Reinhausen. Es ist überhaupt nicht hilfreich auf Gewalttaten mit Gewaltphantasien zu antworten und letztere mit einer empörten und emotionsgeladenen Berichterstattung zusätzlich zu befeuern.
Das Ausschlachten einzelner Taten ist gleichermaßen unangebracht, denn Vergewaltigung ist, so drastisch das klingt, Normalzustand. Diesen zu überwinden hängt zu einem erheblichen Teil auch an der öffentlichen Auseinandersetzung mit sexualisierter Gewalt und ihrer Anerkennung als erhebliches gesamtgesellschaftliches Problem. In einem solchen Kontext lässt sich sensibler, sachgerechter und qualifizierter über Einzeltaten urteilen. Aktuell ist entscheidend, dass den Ermittlungsbehörden ein schneller Fahndungserfolg gelingt und die junge Frau, die Opfer einer besonders schwerwiegenden Form sexualisierter Gewalt wurde, rasch und vollständig genesen kann.