„Es passiert halt.“
„tun. starthilfe für flüchtlinge im landkreis eichstätt“ ist ein Projekt, das Wellen schlägt. Im kleinen Eichstätt (Oberbayern) helfen Bürger und Studenten jenen, die es noch werden wollen. Martina Zukowski war für uns vor Ort, um sich ein Bild zu machen.
Ich werde integriert. Mitten in Bayern. Obgleich ich so manchen zu befremden scheine: Kamera, Block, Diktiergerät – das passt nicht hierher. Wenn ich auch keinen Migrationshintergrund habe, so komme ich dennoch von außen. Doch nachdem Blicke von Worten und dann von Handlungen abgelöst werden, bin ich dabei. Ich tue auch. Ganz simpel, ganz unscheinbar ereignet sich im Eichstätter Projekt „tun. starthilfe für flüchtlinge“ etwas, das mir nie so selbstverständlich passierte: Aufnahme – ohne anfängliche Fragen.
„Ihr seid hier nicht erwünscht“
Als ich in der ersten Märzwoche die ‚Frühlingsschule‘ des Integrations-Projekts besuche, erlebe ich in vergleichsweise kurzer Zeit sehr viel. Man erzählt mir von Flucht, Tod, Terror, Stagnation in Lagern. Von Scheitern und teilweise absurd anmutender Hoffnung. Man erläutert mir Organisatorisches. Ich darf vieles nachvollziehen. Doch so ganz verständlich wird mir das Phänomen dieser Bürgerinitiative nicht: Rund 50 Freiwillige engagieren sich, um Flüchtlingen zu helfen, während ihnen die Politik in Bayern klarzumachen versucht: „Ihr seid hier nicht erwünscht.“
Die verantwortlichen Politiker müssten sich aber unter den Projektteilnehmern keineswegs fürchten – sie bekämen wahrscheinlich erst mal einen Kaffee. Ohne Fragen.
Das Eichstätter Projekt entstand vor etwa eineinhalb Jahren als Bürgerinitiative. Beim Treffen bei einer Sozialarbeiterin zuhause nahm die Idee der drei Initiatoren Anna Peschke, Christopher Knoll und Deborah Foth konkrete Formen an: Flüchtlingen Deutsch beibringen – kostenlos. Unkompliziert. Eine Woche nach der Gründung der tun-Facebook-Gruppe gab es bereits den ersten Unterricht. Ein Jahr später, im August/ September 2013 konnte man erstmals Blockunterricht – die ‚Sommerschule‘ – anbieten. Seitdem hat sich die Zahl der freiwilligen Betreuer verdoppelt, wie einer der Organisatoren erzählt. Rund 50 Leute arbeiten im März bei der ‚Frühlingsschule‘ mit: Unterricht, Kinderbetreuung, Verköstigung, Freizeitprogramm, Informationsveranstaltungen. Jeder hilft da, wo er hinpasst.
Ich darf auch helfen – Kohl hobeln, übersetzen, basteln. Und komme ins Gespräch. Zum Beispiel mit Tarik. Mit ihm unterhalte ich mich öfter. Der junge Mann wirkt optimistisch. Gepflegt. Motiviert. Er trägt sportliche Kleidung, lacht viel. Er tut sich leicht beim Lernen. Ich erfahre, dass er Sprachlehrer war, in Pakistan. Der 22-Jährige sagt, er habe für die Amerikaner übersetzt und eine Schule unterhalten. Das wurde ihm zum Verhängnis. Er kam auf die Abschussliste der Taliban. Er erzählt, wie sie seine Schule niederbrannten und seinen Vater umbrachten. Sein einfaches Schlusswort ist: „The Americans did not help me. Nobody helped me. So I left everything.“ Und kam nach Deutschland.
Neben Sprachlehrern, Pädagogen und anderen Wissenschaftlern finden sich alle möglichen Leute unter den Helfern. Die Studenten der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt stellen einen großen Teil. Sie erhalten Creditpoints für ihr Engagement. Zur Förderung gesellschaftlichen Engagements wurde vor zweieinhalb Jahren eigens das EduCulture-Modul geschaffen. Ginge es aber nur darum, würden die Studenten wahrscheinlich nach dem Leistungsnachweis nicht mehr weiterarbeiten – was sie aber ‚tun‘. Weil sie Lust drauf haben.
Es gibt keine „weniger Wichtigen“
Anna Peschke (22), Mitbegründerin der Initiative, erklärt: „Es ist uns wichtig, keinen Unterschied zu machen zwischen ‚Wir – die Initiatoren‘ und ‚Ihr – die weniger Wichtigen‘. Darum bedanken wir uns auch nicht förmlich bei den Helfern.“ Stattdessen kultiviere man einen anerkennenden Umgang. Unter dieser Prämisse funktionieren die Angebote für zwei Wochen so gut, dass auffallend viele Helfer sich spontan melden.
„Ich wurde gefragt, ob ich was machen will – und jetzt bin ich hier.“ Diesen Satz hört man öfter. „Ich habe es in der Zeitung gelesen – und dann war, mir klar, dass ich dabei bin.“ Weil es eine tolle Sache sei. Weil es „einfach Spaß macht“, erzählt zum Beispiel die 47-jährige Eichstätterin Anette.
„Jeder darf teilhaben“, erzählt die zweiundzwanzigjährige Johanna in der Küche. Hier werden gerade Kohlköpfe das Mittagessen vorbereitet. Diese schlichte, bescheidene Haltung bedeutet für viele Menschen einen Riesenunterschied. Man muss nicht wissen, wie es ist, vertrieben zu sein. Familie, Wurzeln und fast sein Leben zu verlieren. Sich vielleicht sogar den Tod zu wünschen. Aber jeder versteht, wie heilsam es ist, wenn man mitmachen darf. Wenn sich jemand interessiert. Wenn man ganz unerwartet von jemandem überrascht wird – mit einer netten Geste, oder einem aufmerksamen Wort.
Das erleben auch „Durchschnitts-Deutsche“: Eine Studentin hat die Nacht an ihrer Hausarbeit durchgeschrieben, um im Anschluss das Nachmittagsprogramm mitgestalten zu können. Der elfjährige Sohn einer Deutschlehrerin rief nachts um zehn bei einer anderen Lehrerin an, weil er eine Idee hatte, wie man Akkusativ und Dativ besser erklären könne. Anna erklärt, was auch ich selbst unschwer erkennen kann: „Man erkennt oft nicht mehr sofort, weil man Schüler oder Helfer ist.“
Bei Tarik ist es ähnlich: Er macht wieder etwas. Wird wieder ‚lebendig‘. Nachdem er über den Iran und die Türkei nach Bulgarien gekommen war, war es mit der Selbsthilfe erst mal vorbei. Wie er weiter nach Deutschland reiste, weiß er nicht: „I don’t know, how.“ Was er jedoch nie wieder vergessen wird, ist, wie viele auf dem Weg hierher starben. Im deutschen Lager dann war er erst einmal isoliert. Weit weg von der Außenwelt. Verdammt zum Nichts-Tun. „I get so bored in the refugee camp“, erzählt er. Und das, obwohl er erst seit einem Monat dort ist.
Unterforderung und Stillstand, die über Jahre erzwungen werden, machen aus tatkräftigen jungen Männern psychische Wracks. Man kennt die Geschichten. Verzweiflungstaten tauchen immer häufiger in den Medien auf. In Eichstätt wurde jedoch der erste Schritt zu einer grundlegenden Änderung gemacht: Die Menschen werden rausgeholt – auch wenn es bislang nur vier Wochen im Jahr sind.
„Sobald Geld drin ist, ist es nicht mehr so geil.“
Bezahlt werden will hier niemand. Im Gegenteil. „Wir haben nicht vor, hier Stellen zu schaffen“, sagt Anna Peschke. „Denn sobald Geld drin ist, ist es nicht mehr so geil.“ Die Helfer müssen wirtschaftlich unabhängig sein – das Engagement mit und Studium und zum Teil mehreren Jobs irgendwie vereinbaren.
Es soll keine Kosten-Nutzen-Mentalität bei den Studenten aufkommen, sagt Christopher Knoll. Der 33-Jährige hat das Uni-Modul vor zweieinhalb Jahren mit ins Leben gerufen. Das Ganze war ein Projekt des Uni-Konvents. Gerade im Bachelorsystem sei es sinnvoll, zeitliche Freiräume für gesellschaftliche Arbeit zu schaffen. „Die Studenten könnten auch andere Projekte, wie etwa die Arbeit in einer Jugendstrafvollzugsanstalt, an der Uni anerkennen lassen“, erklärt er. „Die übergeordnete Idee ist es, dass die Universität eine Einrichtung für Bürger und Studierende gleichermaßen ist. Als öffentliche Einrichtung kann sie einen Mediationseffekt für die Region haben.“
„Die Studenten machen ja doch was.“
Denn Stadtbewohner und Studenten können oft nur wenig miteinander anfangen. In zahlreichen Universitätsstädten besteht ein gewisser Gegensatz zwischen angestammten Bürgern und der Parallelwelt der Universität. Studenten und Alteingesessene haben kaum Begegnungsmöglichkeiten, abgesehen von vereinzelten Schnittpunkten. Das ‚tun‘-Projekt hat das teilweise aufgehoben: Die Altersstreuung unter Helfern und Teilnehmern reicht vom Kleinkind bis zum Rentner, die soziale Struktur umfasst Familien, Alleinstehende, Gruppen verschiedenster Migrationshintergründe. Das Ergebnis überzeugt auch die Zweifler: „Die Studenten machen ja doch was“, hört man nun öfter in Eichstätt.
Wenn die Leute dann erzählen, was sie bei ‚tun‘ so machen, scheint ihnen aber gar nicht so recht bewusst zu sein, dass sie hier eine Leistung erbringen. Einen Beitrag leisten. Karolina Albrecht aus dem Presseteam erzählt gelassen: „Ich investiere mehr Arbeit in ‚tun‘, als im Minijob.“ Diese Bemerkung am Rande wird dann aber schnell von inhaltlichen Themen abgelöst – es ist ihr nicht allzu wichtig.
Nichtsdestotrotz zeigt der Aufwand Wirkung. Die Leute reden darüber. Denn eines sei laut Karolina mittlerweile klar: „Es geht um den Landkreis.“ Nach dem Medienecho, unter anderem in der Süddeutschen Zeitung, der taz und im ZDF, zu schließen, ist die Bedeutung durchaus noch weiter ausbaufähig. Andere Unis haben bereits nach dem Konzept gefragt – überlegen, ob es sich auf ihre Stadt übertragen lässt. Leute, die von Eichstätt woanders hingehen, nehmen die Idee und die Erfahrung mit.
Und die Flüchtlinge selbst? Der Nutzen des Projekts ist eigentlich selbstredend. Deutschunterricht, Integration, Arbeitskraft, und so weiter. Diese Dinge muss man bei ‚tun‘ nicht erklären, wenngleich sie erforscht werden. Derzeit werden etwa sechs Abschlussarbeiten über das Projekt verfasst, neben weiteren Hausarbeiten.
Die Schüler jedoch betreffen politische Argumentationen nicht direkt. Für sie bedeutet die ‚Frühlingsschule‘ im bescheidensten Sinn einfach Abwechslung. Die psychologische Wirkung, die ‚tun‘ für die Flüchtlinge entfaltet, ist beachtlich: Zerstreuung und neuer Input. Nach zwölf Jahren in Asylheimen, wie etwa im Falle der 36-jährigen Yue kann man sich die Bedeutung des wöchentlichen Deutschunterrichts und des zweiwöchigen Blockprogramms nur schwer vorstellen. Sie ist ein politischer Flüchtling aus China und lebt seit nunmehr acht Jahren mit ihrer Familie in einem Zimmer mit Bad. Hierbei handelt es sich um Luxus, denn ihr Raum ist der einzige mit eigenen Sanitäranlagen.
„Paradoxe Traurigkeit“
Yue kommt mit ihrer ganzen Familie zur ‚Frühlingsschule‘. Die unmittelbare Freude auf sie wie auf andere lässt sich unschwer erkennen: Lachen und Unterhaltung prägen das Projekt. Die Unterrichtssequenzen bilden zwar den Kern, sind aber dennoch nur ein Teil von vielen. Nach Odysseen und Rückschlägen erleben die Menschen hier einfache Gemeinschaft auf weniger beengtem Raum. Einen Rahmen, der auch ihrem Mitteilungsbedürfnis entspricht. Offen und in einfachen Worten erzählt man von Notlagen, Grenzerfahrungen, zermürbenden und omnipräsenten Problemen. Natürlich sind auch die Flüchtlinge keine Heiligen. Bei ‚tun‘ ist das aber ok.
Christopher schildert eine „paradoxe Traurigkeit“: „Bereits vor Beginn der Frühlingsschule sagen die Leute, dass sie bedrückt sind, weil es bald wieder vorbei ist.“ Trotz des laufenden Unterrichts in den Unterbringungen während des Semesters. Frühere Schüler der ‚Sommerschule‘ sind mittlerweile als freiwillige Helfer dabei. Bereits bei der Vorbereitung im Januar wurde auf ihre Vorschläge Rücksicht genommen.
Erzwingen kann man diese Akzeptanz wohl kaum. Weder von Seiten der Schüler, noch von Seiten der Mitarbeiter. Während vielerorts in Bayern Flüchtlingshilfe von wenigen Idealisten betrieben wird, ist sie in Eichstätt zum Stadtprojekt geworden. Die Initiatoren sind sich allerdings einig, dass die kurzen Wege in der kleinen Stadt das Ganze vereinfacht haben. Man kennt sich – man hilft sich. Vielleicht funktioniert es aber auch gerade deshalb, weil niemand etwas machen müsse, meint Karolina. Sie bringt es lakonisch auf den Punkt: „Es passiert halt.“
Man kann es nicht so richtig erklären. Umso interessanter ist es, die Entwicklungen zu beobachten. Die Besserung zu ermessen. Auch der Senegalese Matar strahlt Tatkraft aus – was nicht immer so war. Er erzählt, er habe seine Heimat verlassen, um zu studieren. „Ich habe meine Familie enttäuscht“, sagt der 28-jährige Rockmusiker. „Ich kann erst zurückkehren, wenn ich etwas erreicht habe.“
Etwas schaffen wollen alle, mit denen ich spreche: „Ich will arbeiten“, ist wohl das meist genannte Ziel. Das geht nach der Ankunft in Deutschland nach frühestens neun Monaten. Auch Tarik hat diesen Wunsch: „I’d like to work as a teacher.“ Deshalb kam er her. Mit Deutsch lernt er nun seine sechste Sprache. Und mit der Arbeit, so er sie einmal hat, kann er sich vielleicht das grundlegendste menschliche Bedürfnis erfüllen. Die große Hoffnung, die so viele Vertriebene nach Europa spült: „I wanted to live free.“
Alle Namen der Flüchtlinge wurden von der Redaktion geändert.