„Ich bin doch kein Mimöschen!”
Sie lässt sich nicht jede klerikale Willkür als göttliches Gesetz andrehen und nimmt auch nicht jedes Parteigeflüster für bare Münze. Nein, Mathilde Vietze ist beileibe keine einfache Kost. Dass sie den ein oder anderen deswegen schon durch ihre bloße Anwesenheit nervt, nimmt sie mit Humor. Ein Porträt über eine „protestantische Katholikin“, die lange nicht so fromm ist, wie Kirche und SPD sie gerne hätten.
Von Dike Attenbrunner
„Da haben mir doch einige Ewiggestrige in der katholischen Kirche tatsächlich unterstellt, dass ich für das Rudelbumsen bin. Und dies nur, weil ich mich öffentlich dafür einsetzte, dass jeder Priester selber entscheiden soll, ob er das Zölibat annehmen will – oder eben nicht.“ Darf ich vorstellen: Die Regensburger SPD-Lokalmatadorin Mathilde Vietze.
Das verstaubte Frauenbild
Die „wilde Mathilde“, wie sie oft genannt wird, macht ihrem Spitznamen gerade mal wieder alle Ehre. Und das nachmittags im mediterranen Flair des Café Bellissima (das befindet sich im Gartencenter Haubensak in der Bajuwarenstraße), in dem viele Senioren und junge Familien in Hörweite an den Nebentischen hocken. Aber hat sich Genossin Vietze mal in Rage geredet, dann ist sie in ihrem Element – und nur mehr schwer zu bremsen.
Es ist nicht nur der Umgang der katholischen Obrigkeit mit ihren Schäfchen, sondern auch deren verstaubtes Frauenbild, gegen das sich die 73-Jährige zeit ihres Lebens auflehnte. „Die Frau war früher doch nur dazu da, um zu dienen und Kinder in die Welt zu setzen, damit sie ja nicht auf dumme Gedanken kommt!“, bricht es polternd aus ihr hervor. Umso mehr, sagt sie, habe sie deshalb auch mit großer Begeisterung meine Polemik gegen Supermamis gelesen, weil Frauen sich eben nur selbst von den ihnen auferlegten gesellschaftlichen Zwängen befreien könnten.
Wenn die Vietze also unüberhörbar ihre Stimme erhebt und mit unermüdlichem Eifer einen Leserbrief nach dem anderen verfasst, in denen sie die „hinterwäldlerische Sexualmoral“ und andere Mißstände in der katholischen Kirche anprangert, hat das oft mit ihrer eigenen Befreiung zu tun.
Die Kindheit am Fluss
Das Mädchen mit den roten Haaren wuchs in der Keplerstraße auf. Damals war das sogenannte Glasscherbenviertel einer der sozialen Brennpunkte Regensburgs und für die einzige Tochter eines Hilfsarbeiters ein Ort, für den sie sich zutiefst schämte. In der Geschichte „Meine Kindheit am Fluss“ hat die Hobby-Schreiberin das festgehalten:
„Das Haus Keplerstraße 9, wo wir von 1940 bis 1958 wohnten, war – ohne zu übertreiben – eine Bruchbude, aber wir mussten froh sein, wenigstens ein Dach über dem Kopf zu haben. Im Hausflur gab es weder Licht, geschweige denn die Möglichkeit, die Haustüre abzuschließen. Wenn ich des Abends von der Tanzstunde heimgebracht wurde, verabschiedete ich meinen Tanzherren immer schon einige Meter vor meiner Haustüre, um ihn nicht zu erschrecken. Es kam nämlich gar nicht so selten vor, dass im Hausflur ein Betrunkener lag, um dort seinen Rausch auszuschlafen.“
Trotz der widrigen Umstände durfte die geborene „Tremmel“ die Mädchenrealschule Niedermünster besuchen. Danach war sie zwei Jahre lang in der Bischöflichen Administration angestellt. Weil sie dort aber sehr wenig verdiente („Ich hätte für den bischöflichen Segen und das Wort Gottes arbeiten sollen!“) und einen Teil ihres Lohns zu Hause abgeben musste, wechselte sie 1960 in die Stadtverwaltung. Dort arbeitete sie bis zu ihrer Rente 40 Jahre lang als Verwaltungsangestellte.
Die gläubige Katholikin
Fühlte sie sich im städtischen Dienst zumeist anerkannt und gefördert, war das in kirchlichen Kreisen ganz und gar nicht der Fall. Die gläubige Katholikin provozierte Widerstand. Einmal, erzählt sie, sei sie mit einer Keilhose in der Gruppenstunde der Pfarrjugend aufgetaucht. Die Schwester habe sie völlig entsetzt angestarrt und sie umgehend wieder heim geschickt, damit sie ihr die Zöglinge nicht verderbe. „Und das alles nur, weil ich eine Hose anhatte!“
Als sie dann Ende der 60er in die SPD eintrat, sorgte auch das für Unmut in der Gemeinde der Albertus-Magnus-Kirche in der Schwabenstraße. Beim Pfarrer wurde solange gegen sie gehetzt, bis er sie schließlich rauswarf. Er soff sich einen Rausch an, beschimpfte Vietze als „alte Kuh“ und stürmte von dannen. „In dieser Gemeinde bin ich nie mehr heimisch geworden“, sagt sie betrübt.
Dass sie 1974 einen atheistischen Parteigenossen heiratete und ihm zuliebe auf eine kirchliche Trauung verzichtete, setzte dem Ganzen für manch frommes Gemüt schließlich die Krone auf. Ihrer Schwiegermutter schickte man eine Pfarrschwester ins Haus, damit diese ihr ins Gewissen rede, weil sie die Tradition breche. Und nicht nur das: „Meine Mutter wurde ständig von allen Seiten blöd angeredet: Sagen Sie Ihrer Tochter, sie soll sich endlich ein Kind anschaffen! Die läuft nur mit T-Shirts und Jeans in der Gegend herum. Das schickt sich doch nicht für eine Bürodame!“
Die Depressionen
Ob sie denn dann aus Trotz keine Kinder bekommen habe? Nein, das sei eine sehr bewusste Entscheidung gewesen. Zum einen habe sie selbst keine schöne Kindheit gehabt. Zum anderen leide sie seit ihrer Jugend an Depressionen. „Stellen Sie sich vor, ich hätte ein Kind bekommen und dann zur Behandlung längere Zeit in eine Klinik gemusst. Nein, das wollte ich keinem Kind antun.“
Es gebe viele Leute, so Vietze, die der Meinung wären, ein Depressiver müsse sich andauernd ausheulen. Aber das sei totaler Quatsch. Für sie sei es zum Beispiel ungeheuer wichtig, dass sie mit anderen auf einer intellektuellen Ebene diskutieren könne. „Meinem Mann habe ich in dieser Hinsicht viel zu verdanken.“ Er war es, der sie in neue gesellschaftliche Kreise einführte und sie so nach und nach aus ihrem alten Leben geleitete, weg von der Mutter, für die Mathilde immer das brave und unbedarfte Mädchen hätte bleiben sollen.
Es sei doch ohnehin immer dasselbe, nach dem der Mensch sich sehne, nämlich die heimische Zweisamkeit, ist Vietze überzeugt. Das merke sie immer wieder auch bei den Teilnehmern ihrer Wandergruppe, die sie 2002 gegründet hat. „Viele sind gerade im Alter sehr einsam, wenn der lang vertraute Partner nicht mehr da ist. Deshalb achte ich darauf, dass meine Wanderer regelmäßig kommen und nicht daheim versauern.“
Die klerikale Willkür
Und genau das mache sie der katholischen Kirche in der Zölibatsdebatte zum Vorwurf: Dass auch manch Priester eine ganz normale Sehnsucht nach einer Familie hat. „Aber die Kirche setzt sich gar nicht inhaltlich mit mir auseinander, sondern wirft mir pauschal vor, die abendländische Tradition abschaffen zu wollen.“ Auch wenn sie ihren Glauben sehr ernst nehme, lasse sie sich noch lange nicht jede klerikale Willkür als göttliches Gesetz andrehen.
Wie dem auch sei, Vietze sieht es gelassen. Den Mund lässt sie sich sowieso nicht verbieten. Neuerdings verarbeitet sie ihren Unmut über die „Machenschaften der katholischen Obrigkeit“ in humoristischen Gedichten, die sich, so sagt sie, auch unter aufgeschlossenen Katholiken großer Beliebtheit erfreuen. Und die „katholische Protestantin“, die regelmäßig sowohl katholische als auch evangelische Gottesdienste besucht, macht sich für die Ökumene stark. Sie wird auch nicht müde, den Priestern eine Rückmeldung zu ihren Predigten zu geben. „Die machen sich immer so viel Mühe – und dann wird das meist nach dem Gottesdienst sofort wieder vergessen. Ich will ihnen zeigen, dass ich mich mit ihren Gedanken beschäftige.“
Das mit der kritischen Auseinandersetzung gilt im Übrigen genauso für die Regensburger SPD, über die die 73-Jährige seit Anbeginn ihrer Parteizugehörigkeit mit Argusaugen wacht. Sie verfolgte nicht nur die Auseinandersetzungen des linken und rechten Flügels ihrer Genossen in der 68er-Bewegung („Die Jungsozialisten hätten die rechten Sozis am liebsten auf eine einsame Insel geschickt und umgekehrt.“), Vietze war auch für einige Jahre Vorsitzende des Ortsvereins Südosten-Kasernen. Diesen Posten hat sie allerdings im April vergangenen Jahres abgegeben. Nicht etwa aus Amtsmüdigkeit, betont sie, sondern vielmehr um der Genossin Evi Kolbe-Stockert den Weg in den Stadtrat zu ebnen.
Die SPD und der Unmut
Hätte ihre Partei in den letzten Jahren etwas besser machen können? Die Regensburger SPD habe, so Vietze, in den vergangenen Jahren viel zu oft falsche Leute geduldet oder gar unterstützt. Öffentlich nachtreten wolle sie aber nicht. Ihren Unmut habe sie sowieso immer an Ort und Stelle kundgetan. Dass sie viele Sozialdemokraten deswegen schon alleine durch ihre bloße Anwesenheit nervt, störe sie überhaupt nicht. „Ich bin doch kein Mimöschen!“ Wer eine Meinung habe und in die Politik gehe, müsse so etwas aushalten können.
Nur von den sogenannten Linken in ihrer Partei sei sie bitter enttäuscht. Jahrelang habe sie für diese den Kopf hingehalten und sei dann, als sie deren Hilfe benötigt hätte, fallengelassen worden wie eine heiße Kartoffel. Nicht so SPD-Oberbürgermeisterkandidat Joachim Wolbergs, der kommenden Sonntag in einer Stichwahl gegen den Kandidaten der CSU, Christian Schlegl, antreten wird. Diesem steht Vietze, wie sie sagt, in „kritischer Solidarität“ gegenüber, weil sie sich immer auf ihn habe verlassen können.
Als Wolbergs ihr für 40 Jahre SPD-Mitgliedschaft die Willy-Brandt-Medaille überreichte, habe er sie zwar ausgiebig für ihre Verdienste geehrt, erzählt Vietze, sie aber im gleichen Atemzug und mit einem Augenzwinkern darum gebeten, ihn künftig nicht mehr so zu ärgern. Wenn man sich das kecke Grinsen der wilden Mathilde anschaut, dürfte das wohl ein frommer Wunsch bleiben…
Ach, was Mathilde Vietze oder Kutscher Bernd Neumann-Henneberg können, können Sie schon lange? Oder zumindest jemand, den Sie kennen, der wiederum jemand kennt? Dann zögern Sie nicht lange und schreiben Sie uns eine Email mit Ihrem Vorschlag. Wir sind für unsere Porträt-Serie laufend auf der Suche nach interessanten Menschen in und rund um Regensburg. Und nein, berühmte reiche Vorfahren oder eine Angehörigkeit zum Hause Thurn und Taxis sind dafür nicht vonnöten.