„Hartz IV hat die Kinderarmut verdoppelt“
Sozialkritik statt demagogischer Hetzreden – von den lokalen Medien ignoriert fand in Regensburg ein etwas anderer Aschermittwoch statt.
Was hat dieses Thema in einer der reichsten Städte Deutschlands eigentlich verloren? „Vom Sozialstaat zum Suppenküchen- und Almosenstaat“. Muss man sich das wirklich anhören – gerade hier, in Regensburg? Und dann noch von einem Professor, der mit vielen Zahlen und akademischem Duktus glänzt. Braucht es das wirklich – zum Aschermittwoch? Kann man nicht einmal mehr gemütlich drei oder vier Mass Bier trinken und sich dazu von ein paar schönen Hetzreden gegen irgendwelche anderen berieseln lassen, wie sie heuer etwa Andreas Scheuer für die CSU in Passau vom Stapel gelassen hat? Nein! Anscheinend geht das in Regensburg nicht.
Hier kommt Professor Christoph Butterwegge von der Universität Köln zum „Sozialpolitischen Aschermittwoch“ in den Leeren Beutel verdirbt einem vor vollem Saal (Stadträte muss man mit der Lupe suchen. Nur Richard Spieß, Irmgard Freihoffer und Joachim Graf sind da.) so richtig die gute Laune.Am Ende müssen sich die Anwesenden dann von einem langjährigen BMW-Beschäftigten anhören, dass das Regensburger Aushänge-Unternehmen „langsam zu einem Tollhaus“ werde.
Doch von Anfang an.
„Laut Koalitionsvertrag gibt es in Deutschland keine Armut“
Die Kritik an der „Demontage des Sozialstaats“ ist schon seit langem ein Thema des Politikwissenschaftlers. 1975 wurde er aus der SPD ausgeschlossen, weil er dem damaligen Bundeskanzler Helmut Schmidt eine Politik gegen die Interessen der Arbeitnehmer vorgeworfen hatte. Später trat er wieder ein und verließ sie 2005 anlässlich des damaligen Koalitionsvertrags zwischen CDU/ CSU und SPD erneut – dieses Mal endgültig. Auch am Mittwoch in Regensburg lässt Butterwegge an der Politik der schwarz-roten Koalition im Bund kaum ein gutes Haar.
„Es gibt überhaupt keine Sensibilität bei den Regierungsparteien in Bezug auf die zunehmende soziale Spaltung dieses Landes“, sagt er. Lese man den Koalitionsvertrag, dann gebe es nach Auffassung der der Bundesregierung offenbar keine Armut in Deutschland. „Wenn man genau hinkuckt, sind sowohl die Punkte zum Mindestlohn wie auch zur Rentenpolitik im Koalitionsvertrag so formuliert, das am Ende nicht viel dabei herauskommt.“
In Wahrheit werde sowohl die Lebensarbeitszeit verlängert, das Rentenniveau damit systematisch gesenkt und andererseits werde durch Deregulierung des Arbeitsmarkts ein breiter Niedriglohnsektor geschaffen. „Das führt am Ende zwangsläufig zu Altersarmut und ich sehe nicht, dass dem entgegengewirkt wird.“
Beginnend mit der Weltwirtschaftskrise Mitte der 70er Jahre habe der Umbau des Sozialstaats begonnen. Das Soziale sei dem Ökonomischen mehr und mehr untergeordnet worden. Durch Leistungskürzungen auf der einen und Aufbau von Zugangsschwellen auf der anderen Seite. Hartz IV sei einer der Höhepunkte dieser Politik des Sozialabbaus. Anstelle einer solidarisch finanzierten Versicherung gegen Arbeitslosigkeit – der Arbeitslosenhilfe – sei „das Almosen“ Arbeitslosengeld II getreten.
Vom Storch, den Kindern und Hartz IV
Der durchschnittliche Hartz IV-Satz von 707 Euro liege deutlich unter der von der EU für Deutschland festgestellten Armutsrisikoschwelle von 980 Euro, so Butterwegge. 1,3 Millionen Menschen müssten trotz Arbeit zusätzlich Hartz IV beantragen. „Niedrige Löhne von Unternehmen werden so durch den Staat subventioniert.“ Die Kinderarmut in Deutschland habe sich seit der Einführung von Hartz IV im Jahr 2005 verdoppelt.
Einen Zusammenhang zwischen dem Sinken der Arbeitslosigkeit mit den Hartz-Gesetzen herzustellen, sei eben so sinnvoll, wie „das Ansteigen der Storch-Population für eine höhere Geburtenrate verantwortlich zu machen“. „Es gab einen zeitlichen, aber keinen kausalen Zusammenhang“, sagt Butterwegge. Zum 10. Jubiläum von Hartz IV im nächsten Jahr will er dazu ein eigenes Buch veröffentlichen.
„Politische Kampfbegriffe“: Chancengerechtigkeit, Teilhabegerechtigkeit, Generationengerechtigkeit…
Nach der Pause – in der Fisch- und Kohlsuppe gereicht werden – gibt es zu diesem Verriss der deutschen Sozialpolitik einige Fragen. Vor allem die, weshalb es nicht mehr Widerstand gegen einen solchen Sozialabbau gebe.
In den letzten Jahrzehnten seien die Menschen systematisch bearbeitet worden, um das Verständnis von sozialer Gerechtigkeit mehr und mehr zu verändern, glaubt Butterwegge. Der Begriff der Verteilungsgerechtigkeit sei ersetzt worden durch „politische Kampfbegriffe“ wie Chancengerechtigkeit („Als ob ich jedem ein Los gebe, mit dem einer eine Millionen gewinnen kann.“), Teilhabegerechtigkeit, Bildungsgerechtigkeit („Elf Prozent aller Beschäftigten im Niedriglohnsektor haben einen Hochschulabschluss.“) oder Generationengerechtigkeit („Die Scheidelinie verläuft nicht zwischen alt und jung, sondern immer noch zwischen arm und reich.“). Die Menschen glaubten das nunmal, so Butterwegge. Und schon Heinrich Heine habe Deutschland einmal das „Land des Gehorsams“ genannt. Da sei der Weg zu einem (hier ohnehin verbotenem) politischen Generalstreik weit.
BMW: „Wie im Tollhaus!“
Am Ende meldet sich ein etwas kleinerer Mann mit leiser Stimme zu Wort. Er arbeite seit vielen Jahren bei BMW und habe dort „gar keinen so schlechten Job“. Selbst sei er nicht betroffen, sagt er. Wenn er aber sehe, wie Leiharbeit und Werkverträge immer mehr ausgebaut würden, komme er sich langsam vor „wie in einem Tollhaus“. Meister im Betrieb gäben ihm, wenn er sich aufrege, den Rat doch ruhig zu sein, durch Leiharbeiter und Werkverträge bleibe mehr Geld für seine Leistungsprämie. Bei den Betriebsratswahlen bekämen Leute wie er, die die ganze Entwicklung kritisch sähen, von der IG Metall keinen aussichtsreichen Listenplatz, um tatsächlich gewählt zu werden. „Was nutzt uns aber das ganze Geld, wenn wir uns aufarbeiten und die Solidarität dabei flöten geht?“, schließt er etwas resigniert. Die Frage bleibt unbeantwortet im Raum, obwohl es viel Applaus für diese Wortmeldung gibt.
Wie? Geld ist nicht das Wichtigste?
Ohne Druck von unten, von der Straße werde es keinen Politikwechsel geben, sagt Butterwegge. Doch woher dieser Druck kommen soll, vermag auch der Professor nicht zu beantworten. Selbst an seiner Universität erlebe er Menschen, die nicht verstehen könnten, weshalb Geld nicht das Wichtigste auf der Welt sei. Auch so eine Aussage hätte es im reichen Regensburg an einem so schönen Aschermittwoch nicht gebraucht.