„Sozialberichterstattung ist eine Daueraufgabe!“
Der Regensburger Sozialbericht ist mittlerweile fast zweieinhalb Jahre alt – auf praktische Maßnahmen wartet man bis heute. Am Mittwoch Abend lud das Sozialforum zu einem Vortrag von Prof. Dr. Ernst Kistler, der den Bericht aus Expertensicht genauer unter die Lupe genommen hat.
Der Dollingersaal ist gut gefüllt, als der geladene Referent, Prof. Dr. Ernst Kistler, zu sprechen beginnt. Das Interesse am Regensburger „Bericht zur sozialen Lage 2011“ ist ungebrochen groß – erst recht, nachdem die auf Basis des Berichts von zahlreichen Bürgern und Interessensgruppen in (nicht immer einfacher) Kooperation mit der Stadtverwaltung mühsam erarbeiteten und im Juli 2012 erstmals vorgestellten Maßnahmen, darunter ein Stadtpass für RVV und öffentliche Einrichtungen, bis heute nicht umgesetzt wurden.
Kistler ist Direktor des Internationalen Instituts für empirische Sozialökonomie (INIFES) und kennt sich aus mit Sozial- und Armutsberichten – immerhin wirkt er seit langer Zeit maßgeblich an ihnen mit, in letzter Zeit in Bayern, Hessen, Hamburg und Rheinland-Pfalz. Dass sich Regensburg überhaupt um Sozialberichterstattung kümmert, lobt er gleich zu Beginn der Veranstaltung ausdrücklich. Es sei wichtig für jede Kommune, zu wissen, wo Probleme auftreten und wie man einer „Tendenz zunehmender Ungleichheit“ möglichst effektiv entgegenwirken kann. Letztlich sei Sozialberichterstattung auch „Anlass zum gesellschaftlichen Diskurs“, gerade, wenn diese partizipativ funktioniert, wie es in Regensburg der Fall war.
Es fehlt der Blick für die Weite – „zu simpel“, „politisch unbefriedigend“
Aus wissenschaftlicher Sicht, das macht Kistler im Folgenden deutlich, gibt es aber sehr wohl einige Defizite am Bericht von 2011. Das fange bei dessen Konzentration auf kleinräumliche Analysen von Daten, die nur das Stadtgebiet selbst betreffen, an. Diese seien zwar notwendig, aber für sich genommen nicht ausreichend. „Wenn ich nur die Lupe verwende, fehlt mir der Blick für die Weite“, sagt Kistler. Die Einbettung der Regensburger Daten in die Betrachtung des Umlands nennt er sogar „nicht nur zu kurz und selektiv, sondern ungenügend“.
Auch die Vereinfachung auf einen rein materiellen Armutsbegriff, bei dem es nur auf zur Verfügung stehende Güter ankommt, hält Kistler für zu kurz gegriffen. „Zu simpel“ und „wissenschaftlich wie politisch unbefriedigend“ nennt er das.
Das berge die Gefahr des falschen Schlusses, es reiche aus, in von Armut bedrohten Bereichen ausreichend Ressourcen zur Verfügung zu stellen. „Wenn wir kommunale Maßnahmen gegen Armut betrachten, muss man nicht glauben, dass die den Betroffenen automatisch zugute kommen. Das muss ich auch an den Mann bringen!“
Ein sogenannter „Lebenslagenansatz” aber, bei dem es vor allem um die Möglichkeiten der Teilhabe geht, werde im Regensburger Bericht vollständig von diesem materiellen Verständnis abgetrennt.
„Als Bürger würde ich mich verarscht fühlen.“
„Die Stadt hat sich wirtschaftlich glänzend entwickelt, das Angebot an Arbeitsplätzen ist quantitativ und qualitativ reichhaltig, die Arbeitslosigkeit infolge dessen vergleichsweise gering.“ (Regensburger Sozialbericht, Seite 5)
Diese Selbstdarstellung Regensburgs sieht Kistler ebenfalls mit einigem Unbehagen. „Als Bürger würde ich mich verarscht fühlen, wenn so ein lobender Satz da drinsteht und das nicht belegt ist.“ Zwar möge es richtig sein, dass Regensburg in wirtschaftlichen Rankings gute Plätze belegt. In einem Sozialbericht sei aber dringend die Frage zu stellen: „Kommt der wirtschaftliche Erfolg, der hier erwirtschaftet wird, auch in der Stadt an?“
Anhand einiger sehr interessanten Zahlen und Statistiken macht der Wissenschaftler deutlich, was er damit meint. So sei etwa die Anzahl der Arbeitslosen ohne abgeschlossene Berufsausbildung in Regensburg hoch. „Sehr hoch. Gscheid hoch!“, betont er. Zudem liege auch die Arbeitslosenquote in Regensburg im Vergleich zum Umland etwas höher – „nicht atypisch“, räumt Kistler ein. Dass sich Regensburg in der Entwicklung der Arbeitslosenquote nicht positiv abhebe, sei aber „nicht gut”.
Wirtschaftswachstum: Sozialpolitisch nicht unbedingt von Bedeutung
Weitere Aufschlüsselungen zeigen den Zuhörern im Dollingersaal, wie irreführend Wirtschaftszahlen sein können, die auf den ersten Blick positiv anmuten. Das Einkommen in der Stadt sei vergleichsweise hoch, wenn man die Löhne dem jeweiligen Arbeitsort zuordne. Lege man allerdings den Wohnort der Beschäftigten zugrunde, falle auf, dass die Löhne der im Landkreis ansässigen Pendler sogar höher seien als in Regensburg-Stadt. „Hohe Einkommen werden mit nach Hause genommen.” In Regensburg selbst bleibe von diesem Geld nichts.
Wachstums-Argumente seien sozialpolitisch allgemein nicht unbedingt aussagekräftig. „Mit dem Hütchen, unsere Wirtschaftskraft sei stark, kann man viele Probleme verdecken.“ Die Kaufkraft in Regensburg liege etwa nur auf dem Niveau der strukturschwachen Regionen in Bayern. Viele Daten belegen, dass die gesellschaftliche Spaltung auch in Regensburg voranschreitet. Die Armutsrisikoquote sei seit 2008 um 2 Prozentpunkte auf 14 % gestiegen – ein im Vergleich zum Landesschnitt dreimal so hoher Zuwachs.
Problem der Altersarmut: Keine Zukunftsmusik
Ganz besonders am Herzen liegt dem Referenten, Altersarmut ernst zu nehmen. Hierzu heißt es im Sozialbericht, diese sei vor allem ein Problem der Zukunft. „Das stimmt so nicht. Die Altersarmut steigt bereits seit einigen Jahren insbesondere auch in Bayern.“ Hierfür sei vor allem der Verlust der Kaufkraft verantwortlich, die durch leicht höhere Nominalrenten kaum abgefedert werde. Gerade in Regensburg sei der Zahlbetrag der Altersrenten viel niedriger als im Landesschnitt – und das, obwohl Bayern ohnehin in Sachen Altersarmut bundesweit einen Spitzenplatz belege. „Ihr kriegt da mit Sicherheit verstärkt ein Problem“, mahnt Kistler an.
„Nicht dem Bürger vor die Füße kotzen, sondern es auch politisch wollen!“
Am Ende seines Vortrags betont er schließlich auch noch einmal, wie wichtig es sei, Maßnahmen auf Basis eines Sozialberichtes nicht nur zu fordern, sondern sich auch um deren Wirksamkeit zu sorgen. Es müsse Teil künftiger Sozialberichterstattungen sein, zu überprüfen, wie die Güter – auch ein Stadtpass – genutzt und angenommen werden. Ob die Betroffenen zufrieden damit seien. „Das Ganze soll man nicht dem Bürger als ungeliebtes Kind vor die Füße kotzen, sondern es von allen Seiten auch politisch wollen!“
Die Menschen müssten sich für Sozialpolitik interessieren – sonst funktioniere die ganze Sache sowieso nicht. „Sozialberichterstattung ist eine Daueraufgabe“, schließt Kistler. Für manchen Anwesenden, der an den mühsamen Diskussionen und dem langwierigen Hin-und-Her der letzten Jahre beteiligt war, mag das fast wie eine Drohung klingen.
Immerhin: Bis Mitte Dezember soll der Endbericht zum „Maßnahmenkatalog zur Bekämpfung der Ursachen und Folgen von Armut“ in den einschlägigen Ausschüssen und im Stadtrat vorgelegt und beschlossen werden.