07 Dez.2012
FilmRISS: Kritik zu „Oh Boy“
Nur eine Tasse Kaffee
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Niko (re.) “denkt nach”; mal alleine, mal in Gesellschaft. (c) X-Verleih
Julika, die Rettung nach Idiotentest und zu teurem Kaffee?
Aber um Berlin geht es in „Oh Boy” eigentlich gar nicht. Und irgendwie dreht sich der Film doch um nichts anderes, obwohl im Mittelpunkt der junge Niko Fischer steht, der sein Jurastudium vor zwei Jahren abgebrochen hat und seitdem „nachdenkt”, wie er seinem zornigen Vater erklärt. Der hat ihm unterdessen das Bankkonto gesperrt. Und auch sonst läuft es für Niko nicht gut; beim „Idiotentest”, der medizinisch-psychologischen Untersuchung für die Führerscheineignung, genauso wenig wie bei der Suche nach einem bezahlbaren Kaffee. Und auch, als er seine alte Schulkameradin Julika zufällig wiedertrifft, ebnen sich seine Wege nur scheinbar. Engmaschige soziale Kontakte? Bei Niko Fehlanzeige.
Nur scheinbar der Weg in ein geordnetes Leben: Julika kann Niko nicht wirklich bändigen. (c) X-Verleih
Arabica oder Columbia statt Leben und Tod
Dass Regisseur und Autor Jan Ole Gerster mit „Oh Boy“ ein so großartiger Wurf gelungen ist, hat zahlreiche Gründe. Der augenscheinlichste ist die großartige Besetzung des Films. Nicht nur Tom Schilling verkörpert seinen Part mit grandioser Selbstverständlichkeit; fast bis zur kleinsten Nebenrolle ist „Oh Boy” brillant gecastet. Das spiegelt sich wider in einer tollen Inszenierung, die leichtfüßig und beschwingt daherkommt, wie in letzter Zeit selten im deutschsprachigen Kino gesehen. Gersters Streifen hängt keineswegs die Kopflastigkeit an, die man ob des sehr nihilistisch-verkünstlerten Plots erwarten könnte; „Oh Boy” erinnert eher an Eduscho-Romantik à la Helge Schneider als an schwerverdauliche Kinokost. Es steht dem Film, dass Niko keine Entscheidung zwischen Leben und Tod, zwischen Sein und Nichtsein fällen muss, sondern lediglich zwischen Kaffee Arabica und Columbia Morning.Hinter der Coffeeshop und Spiegelreflex
Und so sehr sich „Oh Boy” auch von mächtigen Berliner Bildern und pseudoauthentischen Szene-In-Views abkoppelt, so wenig wäre der Film ohne den stets präsenten Hintergrund der Großstadt denkbar. Wer ein Gefühl für das Berlin bekommen will, das hinter schwäbelnden Coffeeshop-Betreiberinnen und spiegelreflexbewaffneten Alexanderplatz-Touristen liegt, muss nur Gersters Film sehen. Die 85 Minuten Laufzeit sind nämlich auch im Hinblick auf das Stadtbild informativer, spannender, nachdenklicher, unterhaltsamer und unvergesslicher als jede Guided Tour es je sein könnte.
Im Hintergrund die Großstadt. (c) X-Verleih