In der aktuellen Debatte um die Integration insbesondere der muslimischen Zuwanderer in Deutschland, die Thilo Sarrazin mit seinen rassistischen Aussagen erneut angeheizt hat, sind empirische Daten und differenzierte Informationen dringend vonnöten, um den weitverbreiteten Vorurteilen und Missverständnissen zu begegnen. Ein Bericht wie der von Ahmet Toprak („Integrationsunwillige Muslime?“), der für sich in Anspruch nimmt, die Betroffenen selbst zu Wort kommen zu lassen und „ein breit gefächertes Bild der muslimischen Gemeinde in Deutschland“ zu zeigen, hätte hier einen wichtigen Beitrag leisten können. Leider bleibt der Autor hinter seinem Anspruch weit zurück.
Toprak, der inzwischen Professor für Erziehungswissenschaften an der Fachhochschule Dortmund ist, hat für seine Studie insgesamt 124 Personen befragt. Durch die unsystematische Auswahl der Interviewpartner („Ich habe mich in meinem Bekannten-, Freundes- und Kollegenkreis erkundigt, um Probanden zu finden, die geeignet und auch gewillt sind, mit mir ein Interview zu führen.“) hat er jedoch die Chance vertan, zu repräsentativen Aussagen zur Befindlichkeit der muslimischen Bevölkerung Deutschlands zu kommen. Zu vielen der von ihm angeschnittenen Themen stellt er lediglich zwei oder drei Aussagen nebeneinander, ohne angeben zu können, in welchem Ausmaß die Zielgruppe diese Meinung teilt oder mit welchen Merkmalen dies zusammenhängt. Auch eine qualitative Untersuchung, als die Toprak seinen Bericht kennzeichnet, hätte nicht beim Einfangen unterschiedlicher Aussagen und Positionen stehenbleiben dürfen, die als solche längst bekannt sind. Interessant wäre gerade eine Gewichtung gewesen: Denkt die Mehrheit der Migranten so oder nur ein kleiner Teil, bzw. von welchen weiteren Merkmalen wie Ausbildung oder Alter werden bestimmte Einstellungen beeinflusst?
Die Interviews beinhalten Aussagen zu insgesamt zehn Themen oder Themenbereichen (warum allerdings Gewalt/ Gewaltanwendung und Homophobie zu einem Themenbereich zusammengefasst wurden, bleibt das Geheimnis des Autors). Im Einzelnen sind das:
Kopftuch: Hier stellt Toprak nur wenige Einzelaussagen vor, die zwar zeigen, dass es sehr unterschiedliche nicht-religiöse Motive für das Kopftuch gibt – von Gewohnheit bis zum Versuch, von Deutschland aus das Kopftuchverbot in der Türkei zu Fall zu bringen. Die wesentlich interessantere Frage aber, nämlich in welcher Häufigkeit welches Motiv wirksam ist, kann Toprak aus seinen geringen Daten nicht beantworten.
Ehre, Ehrenmorde: Hier greift der Autor auf einen Interviewpartner aus seinem früheren Buch „Das schwache Geschlecht – die türkischen Männer“ (2005) zurück, einen jungen Mann aus einem extrem traditionellen, patriarchalischen Milieu, der im Auftrag seiner Familie einen Mordanschlag auf seine Schwester verübt hat. Toprak versäumt es aber, Aussagen zur Häufigkeit solcher extremen Haltungen zu machen, obwohl dazu spätestens seit der Sinus-Studie 2007 Daten vorliegen (müssten).
Zwangsehe: Dem Autor gelingt es hier recht gut, qualitative Unterscheidungen aufzuzeigen zwischen der arrangierten Ehe und ihrer Veränderung nach der Migration, ihren Wurzeln in der dörflichen, präindustriellen Gesellschaft, verschiedenen, nicht zuletzt wirtschaftlichen Motiven etc., und der eigentlichen Zwangsehe, wo die Eltern nicht nur einen Vorschlag zur Verheiratung machen, sondern die Partner zur Eheschließung nötigen. Was leider nur ganz am Rande gestreift wird, ist das Thema Heiratsmigration. Partnerschaften zwischen muslimischen Zuwanderern und Deutschen werden überhaupt nicht behandelt, obwohl dies bei der Frage der angeblichen Integrationsunwilligkeit schon interessant gewesen wäre.
Die weiteren Themen, zu denen Toprak seine Gesprächspartner befragt hat, sind Gewalt, Gewaltanwendung und Homophobie; Gleichberechtigung und Geschlechterrollen; Teilnahme am Schwimm- und Sportunterricht, Sexualkunde, Klassenfahrten; die Rolle der Kultur- und Moscheevereine; der Einfluss der Medien und die Rolle des Herkunftslandes; Islamismus, Terroranschläge und Diskriminierung sowie Integration/ Integrationsdebatte.
Die Zusammenstellung der Themen zeigt, dass Toprak sich gezielt mit häufig benannten Vorurteilen oder Streitpunkten beschäftigt und hierzu die muslimischen Zuwanderer zu Wort kommen lassen möchte. Fundierte Aussagen gelingen aber mit der von ihm gewählten Methode nicht – dass keiner seiner Gesprächspartner das Wort „Islamismus“ kannte und nach Erläuterung sich niemand dazu bekannte, eine islamische Staatsordnung in Deutschland einführen zu wollen, ist im Grunde nicht von Bedeutung, ebenso wie das von vielen geäußerte Gefühl der Diskriminierung allein noch keinen Hinweis auf Art und Ausmaß der tatsächlich vorhandenen Benachteiligungen gibt. Allzu deutlich ist der Wunsch des Autors, seine Glaubensbrüder und -schwestern vom Vorwurf der Integrationsunwilligkeit zu entlasten. Er stellt sie als leicht rückständige, unpolitische, patriarchalisch geprägte Menschen dar, die sich in Deutschland schon integrieren möchten, das heißt den Wunsch nach sozialem Aufstieg für sich und ihre Kinder haben; aus Frustration oder aus dem Gefühl heraus, nicht willkommen zu sein, würden sich aber viele zurückziehen.
Durch die Einengung des Blickwinkels – und dazu gehört allein schon die Auswahl der muslimischen Zuwanderer als Untersuchungsgegenstand – ist die Zugehörigkeit zu einer Glaubensgemeinschaft wirklich das relevante Merkmal, oder ist das nicht vielmehr bereits ein Vorurteil, dem begegnet hätte werden müssen? – zeigt Toprak eben gerade nicht die Verschiedenartigkeit der in Deutschland lebenden Menschen mit Migrationsgeschichte, die Gemeinsamkeiten mit ihren nicht migrierten Mitmenschen, die fließenden Identitätsfindungsprozesse etc. Er wiederholt statt dessen die bekannten Stereotype und ersetzt sie teilweise durch andere, teilweise bestätigt er sie. Einen hilfreichen, den Blick weitenden und die scheinbaren Gewissheiten erschütternden Beitrag zur Integrationsdebatte leistet er jedenfalls nicht.
Ahmet Toprak: Integrationsunwillige Muslime? Lambertus Verlag, 2010