Die Revolution ist unterwegs. Mit fünf Militär-Lastwagen rumpelt sie die Universitätsstraße hinunter Richtung Altstadt, um den Klassenkampf in Regensburg auszurufen. Durch den Fahrtwind und das Motorengeräusch der 30 Jahre alten Lastwägen kann man immer noch die (weitaus älteren) Arbeiterlieder hören, die aus den Megaphonen an den Kübelwägen schmettern. „Vorwärts und nicht vergessen: die Solidarität”, wird gerade im Chor gesungen, als der Tross in die Ludwigstraße einbiegt, wo diese Geräuschkulisse gleich drei Mal so laut wird. Ziel des Zugs ist der Neupfarrplatz. Dort sollen die Regensburgerinnen und Regensburger über den „Notstand der Republik” informiert werden.„Was die Feinde dieses Notstands angeht, so erlauben wir uns, die Herrschaften auf die Existenz eines Proletariats hinzuweisen, von dessen Kraft der Zug eine kleine, aber unübersehbare Vorstellung gibt”, heißt es in einer offiziellen Erklärung.
Die Aktion „Klassenkampf statt Wahlkampf” hat Regensburg erreicht. „Arbeiter und Gewerkschafter, Sozialdemokraten, Sozialisten, Kommunisten und Parteilose” haben diese Aktion gemeinsam beschlossen und befinden sich seit dem 12. September auf ihrem Weg durch Deutschland. Am 27. September, Wahltag, wollen sie in Berlin eintreffen – zur großen Abschlusskundgebung. Heute, Samstag, ist Regensburg an der Reihe. „Gegen die Militarisierung der Gesellschaft” wird von den Militär-Lkws gerufen. Fahnen werden geschwenkt und Schilder mit Brecht-Zitaten in die Höhe gehalten, als der Zug auf dem Neupfarrplatz eintrifft.
Auf einem Lastwagen steht ein dicker Mann – der Geldsack – neben einer arg gealterten Angela Merkel. Dahinter sitzt ein martialischer General mit Silberkinn vorne am Kübelwagen, grimmig dreinblickende Gestalten mit Maschinengewehren und Schildern im Gepäck, die das Technische Hilfswerk als Organisation in bester NS-Tradition ausweisen, vor Heimatschutz und Militäreinsatz im Inneren warnen. Von einem anderen Lkw fletscht ein Krokodil seine Zähne.
Die Organisatoren des Zugs wollen auf den vonstatten gehenden Staatsumbau aufmerksam machen. Krieg in Afghanistan, die Bundeswehr an Schulen, Universitäten und Arbeitsämtern auf Nachwuchssuche, Militäreinsätze (wie in Heiligendamm) im Inneren. „Mit dem Wahlkreuz ist dagegen nichts auszurichten, wenn wir uns nicht zusammenschließen und in den Betrieben, Schulen, den Universitäten und auf der Straße unmissverständlich klar machen: Gegenwehr tut not”, so Pressesprecher Stefan Eggerdinger. Früher oder später werde sich der Staat gegen die eigene Bevölkerung richten. „Das sieht man allein an den Übungen der Bundeswehr zur Niederschlagung von Streiks.” Ebenso in der „Unterstellung sanitärer Hilfsorganisationen wie Rotes Kreuz unter das Militär” und dem Einsatz des Technischen Hilfswerks (THW) als „Streikbrecherorganisation”.
Auf Gegenwehr indessen trifft der Zug selbst. Die Verwendung der Musik aus Berthold Brechts und Kurt Weils Oper „Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny“ wurde durch die Rechteinhaber untersagt. Ein Jugendensemble wollte ihre Aufführung einer Brecht-Adaption am Wahltag in Berlin stattfinden lassen. Dieser Termin ist aber – angesichts zahlreicher Behinderungen – nicht mehr einzuhalten.
Die Fahrt durch Baden-Württemberg und Bayern musste sich der Zug gerichtlich erstreiten. Das dauerte. Mit dem Zeitplan ist man hoffnungslos in Verzug. „Die Auflagenbescheide, mit denen eine Arbeiteraktion wie der Aktionszug überkübelt wird, gehen prinzipiell davon aus, dass ein Demonstrationsrecht hierzulande eigentlich nicht existiert”, sagt Eggerdinger. Nur durch den Gang vor Gericht seien Ordnungsämter und Polizei zu stoppen.
Vornehmlich Großbetriebe fährt der Zug an. Die Arbeiter sollen informiert werden. Das Proletariat. Das stößt auf Widerstand. In Daimler-Werken in Wörth und Mettingen wurde – mit polizeilicher Unterstützung – versucht, die Zufahrt zu versperren. Letztlich erfolglos. In Ingolstadt kam zusätzlich das Technische Hilfswerk zum Einsatz, um die Audi-Belegschaft vor der Kundgebung zu „schützen”.
In Regensburg bleiben größere Behinderungen aus – abgesehen von einem Kupplungsschaden, der nur durch eine nächtliche Kurierfahrt nach Berlin behoben werden kann. Nach ihrer Fahrt über den Neupfarrplatz erreicht die Aktion „Klassenkampf statt Wahlkampf” das hiesige BMW-Werk. Wenige Arbeiter verfolgen dort die Kundgebung – Samstagsschicht. Einige sind aber eigens gekommen, um dem Zug ihre Solidarität zu bekunden. Sie haben die Flugblätter, die seit längerem verteilt werden, gelesen. Ein kleiner Erfolg.
Was sonst in Regensburg davon registriert wurde? „Ich bin schon links, aber das war mir zu militaristisch”, sagt eine Frau im Vorbeigehen am Neupfarrplatz. Ansonsten lassen sich die Blicke der Passanten mal als fragend, mal als verständnislos interpretieren. Am CSU-Stand, den der Zug passiert, macht Stadträtin Brigitte Schlee die „Scheibenwischer”-Geste.
Was bleibt ist eine Mitteilung der Polizei:
„Wegen angemeldeter Versammlungen und Informationsständen verschiedener politischer Gruppierungen war am Samstag eine verstärkte Polizeipräsenz in der Regensburger Innenstadt gefordert. Bereits am Vormittag zog ein Demonstrationszug, bestehend aus 5 historischen Lkw, sowie Begleitfahrzeugen, durch das Stadtgebiet und veranstalteten mit viel Krach eine Kundgebung auf dem Neupfarrplatz. Das Versammlungsgeschehen am Samstag verlief weitgehend friedlich, was auch auf die verstärkte Polizeipräsenz zurückzuführen sein dürfte. Lediglich ein Platzverweis musste an einem Infostand in der Innenstadt ausgesprochen werden.”
An einem Infostand, für den diverse Busse, Einsatzfahrzeuge, Absperrgitter und Bereitschaftspolizisten eingesetzt wurden, stand an diesem Tag der Regensburger NPD-Chef Willi Wiener. Er mobilisiert derzeit für seinen Nazi-Aufmarsch durch die Altstadt.
Die Revolution hat Regensburg mittlerweile wieder verlassen. Sie ist auf dem Weg nach Schweinfurt.
Der Anachronistische Zug oder Freiheit und Democracy
Brecht statt Strauß. Das war die Überschrift, unter der zur Bundestagswahl 1980 der Anachronistische Zug – 16 Militär-Lkw, vier Luxuslimousinen, Motorradpulk und Tross – durch Deutschland fuhr und das gleichnamige Gedicht von Berthold Brecht (siehe Video) in Szene setzte. Eine halbe Millionen Mark kostete die Aktion, die sich als Protestbewegung gegen den damaligen Kanzlerkandidaten Franz Josef Strauß richtete. Strauß war auf dem so genannten Plagenwagen zusammen mit Nazigrößen (u.a. Hitler, Himmler, Heydrich, Göbbels) dargestellt. Die Fahrt durch die Republik führte zu einem spektakulären und dem mit wichtigsten Prozess in Deutschland über Kunstfreiheit – und breiter medialer Berichterstattung. Am Wahlabend – der Zug war in der damaligen Hauptstadt Bonn angelangt – mussten in der Tagesschau die Hochrechnungen hinter dem Bericht über die von Brecht-Tochter Hanne Hiob inszenierte Aufführung zurücktreten. Die Aktion „Klassenkampf statt Wahlkampf” steht in der Tradition des anachronistischen Zugs.