„Der Tag unserer Befreiung ist
unser zweiter Geburtstag“
Seit 2006 gibt es unter dem Dach von pax christi das Projekt Medizinische Hilfe für NS-Opfer auf der Krim. In Zusammenarbeit mit Hana Pfalzova, die das Projekt federführend betreut, veröffentlicht unsere Redaktion in loser Folge Porträts ehemaliger NS-Zwangsarbeiterinnen.
Maria, von ihren Eltern liebevoll Mascha genannt, wuchs mit ihrer Familie im russischen Kursk auf. 1936, als Maria 14 Jahre alt war, zog die Familie auf die Krim um. Maria träumte davon, Pilotin zu werden. Sie war sehr sportlich und mit 17 Jahren durfte sie eine Ausbildung zur Fallschirmspringerin beginnen. Im Juni 1942 wurde sie zusammen mit ihrer jüngeren Schwester aufgefordert, sich in zwei Tagen am Sammelplatz in Simferopol einzufinden und musste einen ins Ungewisse führenden Transport antreten. Die jungen Frauen wurden als Zwangsarbeiterinnen zur Aufrechterhaltung der NS-Wirtschaft eingesetzt. Nach einer tagelangen Fahrt im Güterwagon kamen sie in Frankfurt am Main an, wo sie in den Adlerwerken arbeiten mussten. Marias Aufgabe war es, mit einer Maschine Teile für Schützenpanzerfahrgestelle zu produzieren. Maria und ihre Schwester arbeiteten in zwölfstündigen Tag- und Nachtschichten, hatten keinen Kontakt zur Außenwelt, die Verpflegung war katastrophal. Eines Tages funktionierte die Maschine, an der Maria arbeiten musste, nicht mehr. Die Aufseher gingen stellten fest: Jemand hatte Sand in die Maschine gestreut. Maria geriet sofort unter Verdacht, Sabotage betrieben zu haben. Ihr Meister, ein Zivildeutscher, rief die Gestapo. Von ihrer Schwester konnte sie sich nicht einmal verabschieden. Nach tagelangen schmerzhaften Verhören teilte die Gestapo Maria mit, sie müsse nicht mehr in den Adlerwerken arbeiten. Man schickte sie nach Ravensbrück ins Konzentrationslager. Dort musste sie für Siemens arbeiten. An einem Abend erinnerte sie sich an ihre Fallschirmsprünge über der Krim, und zeichnete in der Lagerbaracke ein Flugzeug mit dem sowjetischen Stern. Eine Aufseherin wertete das als Provokation und sorgte dafür, dass Maria für mehrere Tage in den berüchtigten Bunker kam. Im Block lernte sie Mira kennen, eine junge Frau aus Jugoslawien. Maria und Mira wurden Freundinnen; sie unterstützen sich gegenseitig, so gut es ging. Kurz vor der Befreiung, als das Lager evakuiert wurde und Tausende Frauen sich auf Todesmärschen befanden, gelang es den beiden, sich von ihrer Kolonne abzusetzen und im Wald zu verstecken. Zwei Tage später wurden die stark geschwächten Frauen von den Rotarmisten aufgegriffen. Nach dem Krieg traf Maria ihre Schwester und ihre Eltern wieder und begann in Simferopol eine Ausbildung als Krankenschwester. Weil sie als Kollaborateurin galt, durfte sie diese nicht abschließen. In Simferopol lernte sie auch ihren Freund kennen. Er war Mitglied der KP. Die Parteileitung stellte ihn vor die Wahl: Entweder er beendet die Beziehung zu Maria, oder er wird aus der Partei ausgeschlossen, was damals das Ende der Karriere bedeutete. Dennoch heiratete das Paar. Maria traute sich nicht mehr darüber zu reden, dass sie in einem deutschen KZ war – nach stalinistischer Auffassung galten alle KZ-Insassen als Staatsverräter. Begründung: Sie hätten für die deutsche Rüstung gearbeitet und mit Deutschen kollaboriert, sonst hätten sie ja die Haft nicht überlebt. Kurioserweise wurde Maria dennoch eine Stelle als Kellnerin in einem vornehmen Restaurant in Simferopol zugeteilt. Dort verkehrten ausschließlich wichtige Parteifunktionäre und hohe Militärs. Die ganze Zeit plagte Maria die Angst, dass ihre Vergangenheit entdeckt und sie der Spionage bezichtigt würde. Heute lebt Maria Frolowa in Simferopol zusammen mit ihrer Tochter und Enkelin und leitet den Simferopoler Verband ehemaliger Zwangsarbeiter und KZ-Häftlinge. Trotz ihres hohen Alters ist sie erstaunlich fit. Statt mit Aufzug zu fahren wählt sie konsequent die Treppe, im Sommer geht sie den Weg vom Vereinshaus nach Hause grundsätzlich zu Fuß. Bis heute tritt sie in Schulen auf und spricht mit Schülern über ihr Schicksal. „Wir haben in der Ukraine keine Gedenkstätten wie ihr in Deutschland, doch auch hier ist es wichtig, mit den jungen Menschen darüber zu sprechen“, sagt sie überzeugt. Mit Mira hält sie bis heute Briefkontakt. Maria zeigt eine Sammlung von Briefen und Karten: „Mehrfach haben wir uns nach dem Krieg getroffen, und wir schicken uns nicht nur Weihnachtspost, sondern auch Glückwunschkarten Anfang Mai, denn den Tag unserer Befreiung feiern wir als unseren zweiten Geburtstag.”Info: „Medizinische Hilfe für NS-Opfer auf der Krim“ Das Projekt Medizinische Hilfe wurde im April 2006 von pax christi Regensburg gestartet. Initiiert wurde es 2003 von der „Arbeitsgemeinschaft für ehemalige ZwangsarbeiterInnen im Evangelischen Bildungswerk e.V.“. Mittlerweile besteht eine enge Zusammenarbeit mit dem Opferverband in Simferopol, über den 180 ehemalige Zwangsarbeiter und KZ-Häftlinge unterstützt werden. 108 Personen sind älter als 75 Jahre. Alle drei Monate erhalten sie Pakete mit haltbaren Lebensmitteln. Seit 2003 wurden 22.000 Euro verteilt, vor allem für Medikamente und medizinische Behandlung. Das Geld stammt zum übergroßen Teil aus Spenden (Spendenkonto: pax christi, Liga Bank Regensburg, BLZ 75090300, Kontonummer 101167464, Betreff: Medizinische Hilfe – Krim).