Amokfahrt ohne Schuldigen
Der Prozess gegen den Amokfahrer von Regensburg neigt sich dem Ende zu. Gestern wurde das psychiatrische Gutachten des Mannes vor Gericht verlesen. Auch wenn die Sache juristisch eindeutig ist: Einige Unklarheiten bleiben.
Von David Liese
Der dunkelhaarige Mann, mit hochgezogenen Schultern, gesenktem Kopf und starrer, depressiver Miene, wirkt im Vergleich zu dem massiven Tisch, hinter dem er sitzt, ganz klein, fast verschwindend. Wäre der Kontext, in dem man ihn so sehen würde, ein anderer, man würde wohl instinktiv Mitleid mit ihm empfinden.
Vor der Schwurgerichtskammer, wo der als Amokfahrer durch die Presse gehende 46-Jährige auf der Anklagebank sitzt, ist der Impuls freilich ein anderer. Rache und Vergeltung kommen wohl nicht nur den Eltern des Kindes in den Sinn, das der Mann am Ende seiner Schreckensfahrt am 01. August des vergangenen Jahres mit seinem silbernen Cabriolet tödlich verletzte. Als Nebenkläger sitzen sie nun der Person vor Gericht gegenüber, die für das Ableben ihrer fünfjährigen Tochter verantwortlich ist.
Verantwortung nur im kausalen Sinn
Verantwortlich aber nur im kausalen Sinn – denn rein juristisch gesehen gibt es in diesem Fall keinen „Schuldigen“. Bereits in der Anklage der Staatsanwaltschaft wird der Amokfahrer aufgrund seiner psychischen Störung als schuldunfähig eingestuft. Einer der beiden Rechtsanwälte, die die Eltern vertreten, sagt zu uns, das sei vielleicht das Schwierigste für seine Mandanten – akzeptieren zu müssen, dass es in diesem Prozess niemanden gibt, der die „Schuld“ am Tod ihrer Tochter auf sich nehmen kann und wird.
Nachdem die Amokfahrt vor Gericht bereits in mehreren Sitzungen mitunter schmerzlich genau rekonstruiert wurde, stellt am Dienstag der Sachverständige sein psychiatrisches Gutachten vor. Wie gering das Interesse ist, auf das er während seiner fast zweistündigen Ausführungen stößt, wird deutlich, als dem vorsitzenden Richter Werner Ebner mehrfach die Augen zufallen, er regelrecht kurz wegnickt.
Kaum juristische Schwungmasse
Dass dieser Fall juristisch gesehen kaum Schwungmasse bietet, ist eigentlich allen Verfahrensbeteiligten klar. Niemand bezweifelt ernsthaft, dass hier Paragraph 63 des Strafgesetzbuches greifen wird und der Amokfahrer in den Maßregelvollzug der forensischen Psychiatrie kommt.
Sachverständiger ist gleichzeitig Arzt des Angeklagten
Dennoch ist das Gutachten in einigen Punkten durchaus interessant. Zum einen bestätigt die Arbeit von Dr. med. Dietmar Wirtz den Eindruck der psychischen Verfassung des Amokfahrers. Wirtz steht neben seiner Tätigkeit als Sachverständiger in diesem Prozess auch als Oberarzt in der Regensburger Forensik in einem direkten Verhältnis mit dem Angeklagten.
Mehrfach erzählte dieser verschiedenen Personen von seinen Visionen – etwa, dass er ein „glühender Komet“ sei, der sich durch die Sonnenstrahlen und den Wind auflade, oder ein „Engel, der Gott töten“ müsse.
Zum anderen erhärtet sich für den aufmerksamen Zuhörer ein Verdacht: Der psychisch massiv erkrankte Mann hätte vor seiner Tat vielleicht nie die Psychiatrie des Bezirkskrankenhauses Regensburg verlassen dürfen.
Medikation verweigert, nicht mehr auf Station gekommen
Dort befand sich der spätere Amokfahrer nämlich schon seit Mitte Mai in Behandlung, nachdem er in der Praxis seines Hausarztes verkündet hatte, er höre „Stimmen aus dem Radio, die ihm befehlen, die Welt zu retten.“ Zuvor war er auf der Autobahn leicht mit einer Leitplanke kollidiert, auf einer Fahrt auf dem Weg zu seinem Chef, den er mittels eines „Fernkusses“ vor einer irrationalen Gefahr retten wollte.
Von der geschlossenen Abteilung war der Patient dann in die offene Psychiatrie verlegt worden, nachdem sich eine Besserung seiner Symptome abzeichnete. Dennoch fiel er im Juni 2013 in mindestens zwei Situationen als fremdaggressiv auf. Einmal habe es sich dabei um eine „ungerichtete Aggressivität“ gehandelt, berichtet der Gutachter, einmal habe er „einen CD-Player an die Wand geworfen und das Pflegeteam bedroht.“
Etwa zwei Wochen vor der Todesfahrt begann der Patient dann, die Medikation zu verweigern. Von einem Freigang am 31. Juli kehrte er schließlich nicht in die Klinik zurück, teilte aber telefonisch mit, dass er sich zu Hause „ausschlafen“ wolle und am nächsten Morgen zurückkehre.
Die „entscheidende Frage” darf nicht gestellt werden
Dazu sollte es bekanntlich nicht kommen. Stattdessen verursachte der Mann in einem akut psychotischen Zustand am 01. August mehrere Sachschäden und leichte Verletzungen im Stadtgebiet, bis er mit seinem Sportwagen von der Straße abkam und in die Treppe eines Waschsalons einschlug, auf der gerade eine junge Familie mit ihren zwei Kindern saß. Während ein 2-jähriges Mädchen und der schwerverletzte Vater gerettet werden konnten, kam für die fünfjährige Tochter jede Hilfe zu spät.
Als einer der Nebenklageanwälte am Dienstag vor Gericht nun genau diese eine Frage an den verantwortlichen Psychiater richten will – warum konnte ein Patient mit „akut paranoid-schizophrener Symptomatik” das Klinikum verlassen –, geht der vorsitzende Richter harsch dazwischen. „Das spielt hier keine Rolle. Da verzerren wir die Sache. Diese Frage lasse ich nicht zu“, bügelt Ebner, der auch Vizepräsident des Landgerichts ist, den Anwalt ab. Warum man „ein Haufen Zeugen“ vernehme, jedes Detail beleuchte, und die ganz entscheidende Frage nicht stellen dürfe, will der dann wissen. „Es ist eben nicht entscheidend. Wir müssen uns ans Gesetz halten. Ob er jetzt und heute gefährlich ist, ist für den Paragraph 63 entscheidend.“
Keine Antidepressiva, weil er sonst lachen müsse
Ende der Woche finden die letzten Sitzungen des Prozesses statt. Zeugen werden wohl nicht mehr vernommen. Neben einigen formaljuristischen Fragen, die es noch zu klären gilt, werden dann die Plädoyers erwartet. Dass sich der Amokfahrer noch selbst zu den Vorfällen äußert, gilt als unwahrscheinlich – er kann sich an nichts mehr erinnern.
Die Anti-Depressiva, die er in der Forensik bekommen hat, will der Mann seit Verhandlungsbeginn übrigens nicht mehr nehmen. Er hätte dann Angst, lachen zu müssen, was er nicht wolle, berichtet der Sachverständige. Mehr und mehr drängt sich der Eindruck auf: In diesem Prozess wird kein Schuldiger an dem tragischen Unglück gefunden werden. Was bleibt, ist Leiden.
Iudex non dormit, sed recogitat
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“Wie gering das Interesse ist”, am Sachvortrag des medizinischen Sachverständigen, “wird deutlich, als dem vorsitzenden Richter Werner Ebner mehrfach die Augen zufallen, er regelrecht kurz wegnickt”: was für eine Fehlinterpretation!
Der Vorsitzende eines Kollegialspruchkörpers nickt nicht einfach kurz (oder auch länger) weg – schon gar nicht im Frei statt Bayern – , das wäre auch durch die spruchkörperkollegiale Aufmerksamkeit der beisitzenden Richterschaft grundsätzlich nicht möglich.
Ein den Eindruck des Wegnickens bei einem unerfahrenen Gerichtsreporter erzeugender Vorsitzender Richter reflektiert tief und innig, wie in dieser Causa, vielmehr den Rechtsgrundsatz: actus reum non facit, nisi mens rea sit.
Ein Vorsitzender Richter, “der auch Vizepräsident des Landgerichts ist, bügelt den Anwalt ab”. Nanu?
An einem Landgericht des Frei statt Bayern wird nicht gebügelt, schon gar nicht durch den Kammervorsitzenden und Vizepräsidenten, hier werden im Rahmen der Prozeßleitungsherrschaft nicht sachgerechte anwaltliche Anträge abgewiesen; kann sich ja beschweren, der Herr Advokat, hat aber nicht.